Es passiert nicht nur im echten Leben, sondern auch in der Literatur: 

Manchmal lernt man Menschen – oder eben Autoren – völlig neu kennen und fragt sich, wieso man diese Seite nicht schon viel früher entdeckt hat! 

So ging es mir mit Klaus Mann (1906 – 1949), den viele nur als Sohn des Nobelpreisträgers Thomas Mann (1875 – 1955) kennen. 

Klaus führte ein Bohèmeleben: Er reiste von Metropole zu Metropole, nahm Drogen und machte kein Geheimnis daraus, dass er auf Dates mit Matrosen stand. Als sein Vater den Literaturnobelpreis erhielt, musste er einen Teil des Geldes opfern, um die Schulden auszugleichen, die Klaus und seine Schwester Erika auf ihrer Weltreise angehäuft hatten. 

Kein Wunder also, dass ich Klaus als Enfant Terrible der 1920er Jahre in Erinnerung hatte! 

Klaus Mann
Bildquelle: gemeinfrei

Umso überraschender war es für mich zu lesen, dass Klaus Mann es seine „heiligste Aufgabe“ nannte, als Exilschriftsteller gegen die Nazidiktatur zu kämpfen.

Während Thomas Mann sich noch vor einer klaren politischen Positionierung drückte, gründete sein Sohn bereits 1933 die Exilzeitschrift „Die Sammlung“, um den vertriebenen Autorinnen und Autoren eine neue Reichweite zu verschaffen.  

Darüber hinaus war er Kriegsreporter: Im Auftrag der US-Armee interviewte er zahlreiche deutsche Gefangene – vom einfachen Soldaten bis zu Nazigrößen. 

Dadurch entwickelte er ein untrügliches Gespür für die vielen Facetten der nazideutschen Seele, wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit. 

Mein Label des „Skandal-Sohns“ passte nicht – das wurde mir schnell klar. Aber wer war er dann? Was trieb ihn an? Und woher kam seine beeindruckende politische Weitsicht? 

Eine Lektüre, die mich fesselte, begann. Daraus entstand eine historische Kurzgeschichte, die ich dir hier vorstelle. 

Komm mit auf eine Zeitreise ins Jahr 1945 und lerne den Deutschen Exilschriftsteller Klaus Mann näher kennen! 

© Seite 3 online / Erschienen 2024

Titel Schnee im Mai

Ein hübscher, nicht mehr ganz junger Soldat schlenderte durch München. Er trug die olivfarbene Uniform des US-Militärs, über dem zerknitterten gelbbraunen Hemd war locker eine schwarze Krawatte gebunden. Mit dem sommerbraunen Teint und seinen dunklen, mit Pomade zurückgekämmten Haaren wirkte er südländisch. Unter der hohen Stirn blickten verträumte Augen. Es war Klaus Mann, Sohn des weltbekannten Schriftstellers Thomas Mann, der mit dem Zug von Rom nach München gereist war, um als Kriegskorrespondent über das besiegte Deutsche Reich zu berichten. 

Im Kalender stand der 9. Mai 1945 – Tag eins nach Kriegsende. Nach zwölf rastlosen Jahren im Exil betrat Klaus wieder deutschen, betrat er Heimatboden. 

Schon den ganzen Vormittag über hatte er den zerbombten Bahnhof und die Innenstadtruinen inspiziert. Er war im Auftrag der amerikanischen Militärzeitung „Stars and Stripes“ unterwegs, für die er schon länger Artikel und Flugblätter schrieb. Mit leichten Füßen umtänzelte er die Löcher im Boden und ging so lässig an den Haufen mit kaputten Ziegeln und Schutt auf dem Gehweg vorbei, als existierten sie gar nicht. 

Doch seine Gelassenheit täuschte, denn Klaus arbeitete hochkonzentriert. Im Notizbuch, das er gelegentlich aufblätterte, etwas hineinkritzelte und dann wieder unter den Arm klemmte, hielt er alle wichtigen Details fest. Akribisch dokumentierte er die Trümmerhügel entlang der Straßen, die noch stehengebliebenen und teils abgebrochenen Häuserfassaden. Selbst verschonte Häuser wiesen faustgroße Einschusslöcher, Risse in der Fassade und kaputte Fenster auf. Später würde er als Fazit niederschreiben: 

„München ist tot; die Stadt existiert nicht mehr. Was einmal als die schönste Stadt Deutschlands galt, als eine der attraktivsten Städte Europas, hat sich in einen riesigen Friedhof verwandelt. (…) Es war wie ein böser Traum.“ (1)

Wiedersehen mit Poschi 

Nach einem kurzen Lunch mit den amerikanischen Kameraden ging Klaus erneut auf Entdeckungstour. Diesmal führte ihn sein Weg ins wunderschöne Villenviertel am Herzogpark. Er wollte seinen Eltern Katia und Thomas Mann sowie den Geschwistern, allen voran seiner Fast-schon-Zwillingsschwester Erika, berichten, was aus ihrer Familienvilla in der Poschingerstraße 1 geworden war. Das Dichterhaus, in dem Thomas Manns Erzählungen „Herr und Hund“ sowie „Unordnung und frühes Leid“ entstanden waren. Auch Klaus‘ literarisches Schaffen hatte hier seine Wurzeln.

Es gab ihm eine tiefe Genugtuung, vor Erika am Elternhaus einzutreffen. Denn auch die ehrgeizige Schwester war als Kriegsreporterin unterwegs und ihr paralleles Schaffen glich einem Wettlauf. Schon bald würde auch Erika nach Deutschland kommen, um Nazipromis zu interviewen. 

Ob die Villa „Poschi“, wie die Mann-Kinder ihr Zuhause nannten, die Fliegerangriffe überstanden hatte? 

Klaus nahm einen Umweg, weil er unbedingt an der flach und unbekümmert dahinplätschernden Isar entlanggehen wollte. Er brauchte jetzt den frischen Geruch nach Fluss und Wiesen, um den Gestank verkohlter Häuser und den Staub in den Nasenlöchern wieder loszuwerden. 

Und außerdem hoffte er auf Schnee. 

Denn entlang der Uferpromenade standen Pappeln, die mit ihren langen, bizarren Zweigen wie gespenstische Veteranen aussahen, in Reih und Glied. Doch jeden Mai sorgten sie für einen atemberaubenden Zauber, indem sie ihre Samen, die in federleichten Flaum gehüllt waren, wie Schneeflocken durch die Lüfte schickten. Die ganze Allee und die Wiese vor dem Fluss waren dann davon bedeckt. 

Selbst der stocksteife Hausherr Thomas Mann freute sich wie ein Kind über diesen „Sommerschnee“ und liebte es, eine Handvoll Pappelwolle aufzusammeln und in den Himmel zu pusten. 

Der Kontrast zur verwüsteten Innenstadt könnte nicht größer sein. Es war, als hätte die Natur den Krieg einfach weggelächelt. Genauso wie vor zwölf Jahren sangen die Amseln in den alten Bäumen ihre Lieder, so feierlich und rein, dass es Klaus tief ins Herz ging. 

In den Gärten reckten sich Tannen wie frisch gespitzte Bleistifte in den blauen Frühlingshimmel. Eine Formation Blesshühner flog über Klaus hinweg und landete schnatternd und spritzend im Fluss. Erleichtert registrierte er, dass mehrere Villen unversehrt waren, sicher geborgen unter dem maigrünen Schirm der Bäume. 

Aus der Ferne hörte er das hohle Klack-Klack von Ziegeln, die in zügigem Tempo auf einen Haufen geworfen wurden, so als sei man schon mitten im Wiederaufbau. Aufmerksam hielt Klaus Ausschau nach bekannten Gesichtern. Eine Dame mit elegantem Kinderwagen promenierte vorüber, zwei magere Lausbuben in Lederhosen rannten am Flussufer entlang. Ansonsten war die Allee menschenleer. Es gab niemanden, der sagte: 

„Mensch, bist du der Klaus?“

Und: „Dieses Flugblatt, ist das von dir geschrieben? Weißt du, wenn sie abgeworfen wurden, hab ich erst so getan, als interessierten sie mich nicht, und wenn keiner schaute, da hab ich zugegriffen. Ein ganzer Stapel liegt im Schuppen, gut versteckt. Denn diese Flugblätter sind für mich so eine Art Lebensgarantie. Ich denk mir: Wenn die Alliierten kommen und ich schwenke ihre Flugblätter in den Händen, dann dürfen sie mich nicht erschießen!“ 

Oder auch: „Ach, Klaus, alter Junge! Du hast ja all die Zeit Recht gehabt! Eure Arbeit im Exil, das war ein echtes Himmelfahrtskommando. Hätt‘ nicht jeder durchgehalten. Hut ab vor den Manns!“

Tsst, Tagträume. Noch drei Häuser, noch zwei. Die Poschi verbarg sich unter den Bäumen, als wollte sie die Begegnung verspielt hinauszögern. Dann sah er das rot geziegelte Dach mit den zwei Kaminen, die schneeweiße Fassade – und ein Schuttberg sackte von seiner Brust, denn die Villa schien unversehrt.

Fritzi, der Soldat   

Das Herzklopfen wurde stärker, als Klaus die versteckte Zaunlücke suchte und sich hindurchzwängte, sorgsam bedacht, die gute Uniform nicht zu zerreißen. 

Die pinken Pfingstrosen und Rhododendron wucherten, als seien die Büsche seit Jahren nicht gestutzt worden. Sie blühten um die Wette, dass die alten Zweige das Gewicht der Blütenpracht kaum halten konnten. Die Luft duftete wie damals, wenn das Stubenmädchen Waschtag veranstaltete. Erfüllt vom frühlingshaften Glück, storchte Klaus wie ein kleiner Junge über Gras, Brennnesseln und Brombeerranken. 

Plötzlich fühlte er unter seiner rechten Sohle etwas Hartes, das nicht die Form eines Steins hatte. Er bückte sich – und hielt seinen Fritzi in den Händen! 
Fritzi, das war sein heißgeliebter Holzsoldat, der mit seinem fein geschnittenen, bubenhaften Gesicht mehr nach Streichen aussah als nach Strammstehen und Schießen. Auch wenn das Holz über die Jahre grau und rissig geworden war, betrachtete Klaus die Figur mit Kinderaugen und ließ schemenhafte Bilder in seiner Erinnerung aufsteigen. 

Er sah Katia, seine Mutter, wie immer korrekt gekleidet mit hochgestecktem braunen Haar, das ihr mädchenhaft bleiches Gesicht umgab. Zwischen angestrengt zusammengepressten Lippen sprach sie: „Es gibt keinen Soldaten zum Spielen. Du weißt, der Vater liebt es nicht!“

„Aber alle Jungs haben Zinnsoldaten“, brüllte der kleine Klaus aufstampfend und dachte gleichzeitig darüber nach, wie er ebenso gut heimlich bei den Kindern in der Nachbarschaft die begehrten Zinnsoldaten ertauschen könnte – ohne die elterliche Zustimmung. Am besten gleich ein Set, um den Ersten Weltkrieg nachzustellen und den Gegnern so richtig auf die Mütze zu hauen. Das Problem bestünde nur darin, die Soldaten vor den neugierigen Geschwistern geheimzuhalten. Doch wie sollte er dann damit spielen – und mit wem? 

Glücklicherweise hatte auch das Kindermädchen den Streit mitgehört, wie alles, was im Haus geschah, und sie kannte da einen aus ihrer Verwandtschaft, der Alraun-Männchen schnitzte, und wenn er Glücksbringer herstellen konnte, dann doch sicher auch einen Soldaten.
So entstand Fritzi. 
Und das Gute war, dass Fritzi so hübsch und unschuldig aussah, dass sogar der Vater das Schnitzwerk lobte. Er befand, das Gewehr auf Fritzis Rücken sehe eher aus wie ein riesiger Füllfederhalter, und mit diesen Worten war das Spielzeug abgesegnet. 

Sein Fundstück fest in der Hand, umrundete Klaus nun die Villa, um das Portal zu erreichen. Wenn er sie von vorn betrachtete und dabei die Augen unscharf zusammenkniff, erinnerte ihn das Gebäude an das Gesicht seines Vaters: 

Das Dach mit den akkuraten Gauben war die sorgfältig gescheitelte Frisur, die oberen Fenster blickten wie strenge Augen herab, in der Mitte der Balkon als kräftige Nase und das Portal ein wortloser Mund. 

“You can’t go home again!“

Doch je näher er der Haustür kam, desto unsicherer wurden seine Schritte. Es war ein bisschen wie beim Nachhausekommen damals, wenn das Essen verpasst war und der elterliche Ärger den höchsten Bücherstapel in Vaters Arbeitszimmer überragte.  

In seinem Gang war nichts Verspieltes mehr; er schob die Füße tastend voran wie ein alter Herr. Beim genauen Betrachten ließen sich auch die Spuren seines jahrzehntelangen Drogenkonsums nicht verleugnen: Die wächserne Haut mit der schlecht heilenden Kratzwunde an der Stirn, die gekrümmte Körperhaltung und angespannten Glieder. Auch heute waren seine Pupillen leicht verengt. 

Unaufhaltsam breitete sich ein diffuses Gefühl der Unsicherheit in ihm aus; es verdrängte die kindliche Freude, endlich heimzukehren. 

Er begann zu grübeln: Was wäre, wenn ihn die deutsche Öffentlichkeit nicht mit freudigem Respekt empfing? 

Sondern ihn dafür verachtete, dass er 1933 geflüchtet war, während das Volk die Sonnenstunden genoss und beim anschließenden Bombengewitter den Kopf einzog und ausharrte? Klaus hörte schon den stillen Vorwurf: Was wäre aus Deutschland geworden, wenn alle ihre Koffer gepackt und zwischen Südfrankreich, Amsterdam, der Schweiz und den USA hin- und hergependelt wären? 

Auch der Disput mit dem – einst bewunderten – Schriftsteller Gottfried Benn streifte seine Gedanken: Benn sprach allen Emigranten rundheraus das Recht ab, die Lage in Deutschland zutreffend zu beurteilen. In einem Satz: Du hast ja keine Ahnung! 

Schon bald würden andere deutsche Männer heimkehren, aus der Kriegsgefangenschaft, und ihre Geschichten erzählen. Mit ihnen würde Klaus dann verglichen werden. Und er spürte, dass er dabei nicht gut abschnitt, denn er, der Prominentensohn, kam scheinbar nur von einer weiteren Weltreise zurück. Und das auch noch in gutsitzender Feindesuniform. 

Vielleicht darf ich nicht heimkehren, ohne abgeschossenen Finger, der mir das Schreiben erschwert? Die Soldaten erkennen einander am hohlen, starrenden Hungerblick, der manchmal aufflackert wie eine böse Erinnerung. 

Müsste ich nicht irgendwo anders sein? Im Lager oder reglos auf einem Feld, dessen Ortsbezeichnung niemand kennt.

Bin ich der einzige, der noch einen Vater, Brüder und Onkel hat?

Und wieviel Geld darf in der Hosentasche klimpern, wenn alle Schaufenster zugenagelt sind und die Leute nur noch ein paar magere Kaninchen besitzen, Rasse „Deutscher Riese“? 

Diese Fragen durchfegten seinen Kopf mit der Wucht einer Granate, entwurzelten Gefühle und zerstörten die Gewissheit, ein Deutscher zu sein. Einige Jahre später würde Klaus englische Worte für diese existenzielle Verunsicherung finden: 

“Yes, I felt a stranger in my former fatherland. There was an abyss which separated me of those who used to be my countrymen. Wherever I went in Germany, the […] nostalgic Leitmotiv followed me: ‘You can’t go home again!’” (2)

Das Fräulein in der Babyfabrik 

Trotz dieser unheilvollen Ahnungen stieg Klaus die Stufen zum Eingang hinauf. Er war einfach zu neugierig, den Salon, die Küche, sein Kinderzimmer und den wunderschönen Balkon zu betreten, von dem aus man bis zu den Liebfrauentürmen schauen konnte, die den Bombenhagel einigermaßen überstanden hatten. 

Klaus wusste, dass sein Vater schon bald die nächste Radioansprache in der BBC-Reihe „An das Deutsche Volk“ halten würde und dafür frische Informationen aus München gut gebrauchen könnte. Der Gedanke, seiner Familie zu helfen, gab ihm den Mut, nun in die schlafende Villa einzutreten.  

Wo früher die elegante Eingangstür mit großen Glasfenstern war, waren zwei Holzplatten vor die Flügel genagelt. Mit einem schmerzvollen Geräusch ließ sich die Tür widerwillig aufschieben.   

So intakt das Haus auf den ersten Blick aussah, innen war es ausgebrannt. Es roch hier genauso grässlich verrußt wie in der Innenstadt. Klaus tastete sich durch Schutt, Asche und Gerümpel voran und stellte fest, dass im Salon seiner Mutter und im Esszimmer neue Wände eingezogen worden waren. So waren aus den großen Räumen viele kleine Zimmerchen entstanden. 

Doch wozu? 

Lautlos wie ein Einbrecher schlich er die Treppe empor, wobei er herausgerissene Stufen übersteigen musste. Im ersten Obergeschoss lagen die Schlafzimmer seiner Eltern, es gab zwei Bäder, die Zimmer der Kleinsten und des Kinderfräuleins. Er überschaute flüchtig das Chaos. 

Plötzlich hörte er ein Geräusch, das aus dem Dachgeschoss zu kommen schien. Genau gesagt – aus seinem Kinderzimmer. 

Alle Sinne waren zu einer einzigen, äußersten Anspannung verschmolzen. Längst hatten sich seine Augen ans Halbdunkel im Treppenhaus gewöhnt. Er erklomm die letzten Stufen, dann stand er vor seinem Zimmer. Die Tür war nur angelehnt. Und drinnen ging jemand umher und summte dabei den Schlager „Veronika, der Lenz ist da – die Mädchen singen tralala – die ganze Welt ist wie verhext – Veronika, der Spargel wächst“. Mit der Gewissheit, in einer absurden Situation zu sein, klopfte Klaus an. Und als er statt eines „Herein“ hektisches Absatzklacken hörte, gab er der Tür einen Stoß. 

Die Frau erfror in ihrer Haltung, als sie gerade ihre Röcke raffte, um durch ein Fenster auf den Balkon zu steigen. Sie trug eine Bettdecke unterm Arm und über der Schulter einen Beutel, in dem sich der Ausbeulung nach Kartoffeln oder Äpfel befinden mochten. Vom Alter her schätzte Klaus sie als blutjunges, unverheiratetes Fräulein ein. Sie trug kurze, dunkle Haare, insgesamt eine ungepflegte Frisur, die wohl einen Bubikopf darstellen sollte. Ihre Kleidung war zweckmäßig, ein langer grauer Rock, eine Bluse mit Flecken und eine Wollstrickjacke. 

„Was tun Sie hier“, zischte sie, innerlich noch zwischen Flucht und Angriff schwankend. „Warum erschrecken‘s mich so?“

Klaus grinste: „Das gleiche wollte ich Sie gerade fragen – Sie scheinen ja in meinem alten Kinderzimmer zu wohnen!“

Nach einem Moment des Abwägens entschloss sich das Mädchen, dem Soldaten zu trauen. Sie kam ein paar Schritte näher und erzählte, dass sie sich notdürftig auf dem Balkon eingerichtet hatte. Als Schlechtwetter kam, habe sie sich durchs kaputte Fenster ins Haus gemogelt. Aber kochen täte sie natürlich nur auf dem Balkon. Und in der Dunkelheit. Ihr Ziel sei es, einfach abzuwarten, bis die Stadt eingenommen war und die Sieger alles neu geregelt hätten. Für diesen Plan hatte sie sich mit Lebensmitteln eingedeckt und kletterte nur gelegentlich hinunter, um frisches Wasser zu holen, voller Angst, dabei aufgegriffen zu werden. 

Klaus hatte etwas Schokolade in der Tasche, die er ihr reichte. Sie bot an, einen Zichorienkaffee zu kochen. Dieser Kaffeeersatz war das ekelhafteste Gebräu, das Klaus je getrunken hatte, aber er fand es herrlich, auf dem Balkon seines Kinderzimmers zu sitzen. Und Deutsch zu sprechen. 

Als sie begann, über das Schicksal der Poschi zu berichten, zückte er routinemäßig sein Notizbuch. Nur langsam, unwillig wurde ihm klar, dass die Villa bewusst als Niederlassung der Organisation „Lebensborn“ genutzt wurde, um die Familie Mann zu demütigen:  

„Ja, wissen Sie denn wirklich nicht, was das heißt? (…) Stramme Burschen von der SS waren hier einquartiert, sehr feine Leute, wirklich: die reinsten Bullen. No, und als Bullen oder Hengste sind’s dann auch benützt worden, zwegen der Rasse, verstehen’s. So ein Lebensborn – mir ham ja viele g’habt, überall im Land – war für die rassischen Belange da, für die Züchtung des nordischen Geblütes, für den deutschen Nachwuchs“, (3) berichtete sie, mit braunem Mund die Schokolade kauend. Für Klaus drehte sich ihr Wortkarussell zu schnell. Schlagartig begriff er, wozu die kleinen Zimmer im Erdgeschoss gedient hatte. Mit letzter Kraft notierte er „SS baby factory“ und klappte sein Buch zu.  

Noch einmal nippte er am bitteren, dünnen Kaffeeersatz. Ja, die Deutschen hatten gelitten. Aber er auch. Nicht im Notizbuch, im Herzen hatte er genau dokumentiert, was ihm die letzten 12 Jahre eingebracht hatten:

Verlust des Zuhauses, des Heimatlands und zunehmend der Heimatsprache. Er hatte sein Heiligstes für Deutschland in die Waagschale geworfen und bekam nichts zurück. 

Wo in diesem kaputten Land konnte er sein Recht einfordern? Vielleicht gab es irgendwo einen Schalter, mit einer langen Schlange davor. Wenn er an die Reihe käme, würde er sich räuspern und sagen: 

„Guten Tag! Ich gehöre einer der ersten intellektuellen Familien in Deutschland an. Können Sie bitte dafür sorgen, dass unser Zuhause wiederhergestellt wird? Außerdem wäre es nett, wenn meine Schwester Erika wieder stundenlang mit mir im Garten sitzen würde, so wie früher. Bis wann kriegen Sie das hin? – Danke!“

Nach einer Weile merkte das Fräulein, dass sein glasiger Blick in den Himmel schweifte, und wechselte das Thema. „Was haben’s denn da mitgebracht“, schmatzte sie, lächelte ihm aufmunternd ins Gesicht und zeigt auf Fritzi. 

„Nichts, nichts“ murmelte Klaus, „ein Fundstück.“ Er hüllte die Holzfigur in sein Taschentuch und steckte sie, aufstehend, in seine Uniformtasche. Seine Stimme war schleppend geworden, als er ihr erklärte, dass jeden Moment noch ein Kamerad kommen würde, mit einem photographischen Apparat. Inzwischen war Klaus so erschöpft, dass er keine Informationen mehr verarbeiten konnte. Wortlose, sehr mächtige Gedanken kreisten nur noch um die Rückkehr in seine Pension. Eine unbeschreibliche Sehnsucht nach diesem trostlosen Gästezimmer überkam ihn, nach seinem Bett mit dem wackeligen Bücherstapel in Griffweite und nach „la petite chose“, der vertrauten Dosis, die seine Seele so fürsorglich zudeckte und der selbst die vorbildliche Erika nicht abgeneigt war.

Schon bald waren das obligatorische Foto und eine knappe Verabschiedung erfolgt. Wie im Nebel verließ Klaus sein Elternhaus. Draußen zogen bereits rosige Abendwölkchen über den Himmel. Die Amseln in den alten Bäumen waren, wie üblich zum Ausklang des Tages, lauter geworden und im Ton klagend. Auf die Straße biegend, rasselte er fast mit einem alten Herrn zusammen. Dieser schaute den US-Soldaten erschrocken an und duckte sich instinktiv, doch Klaus nickte ihm nur zerstreut zu. Wieder nur ein Fremder.

Sein letzter Blick streifte das Haus gegenüber, die Villa seines Jugendfreunds Ricki Hallgarten. Mit ihm hatten Klaus und Erika im „Laienbund Deutscher Mimiker“ zum ersten Mal Theater gespielt. Jahre später gewann Ricki zusammen mit Erika ein 10.000 Kilometer langes Autorennen quer durch Europa. Außerdem illustrierte er ihr Kinderbuch „Stoffel fliegt übers Meer“. 

Dann erschoss sich der junge Mann. 

Es geschah nur ein Jahr, bevor Klaus und Erika aus Deutschland flüchteten. Thomas Mann kommentierte die Verzweiflungstat kühl als „große Ungezogenheit“. Von diesen Erinnerungen durchdrungen vermied es Klaus, in die Richtung von Rickis altem Kinderzimmerfenster zu schauen, als könnte dort sein bleiches Gesicht auftauchen.

Als die Poschi schon außer Sichtweite lang, geschah es doch noch, das erhoffte Wunder:

Ein Maischneeflöckchen schwebte vom Himmel, so zart und unschuldig, dass es nicht aus dieser Zeit kommen konnte, und es landete genau auf seiner Hand. Klaus fasste den weißen Flaum sanft zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ es in sein Notizbuch gleiten. 


Quellenangaben:
(1): Klaus Mann, Korrespondenzbericht. Zitiert aus: Armin Strohmeyr, „Klaus Mann“, München, 2000.
(2): Klaus Mann, Vortrag 1947. Zitiert aus: Wikipedia, „Klaus Mann“.
(3): Klaus Mann, Der Wendepunkt, 1984.


Über diese Geschichte 


Wie nah diese Kurzgeschichte an der Realität ist, lässt sich einfach beantworten:

Klaus Mann besuchte an diesem Tag tatsächlich die Villa in der Poschinger Straße, war schockiert über den verwüsteten Zustand und fragte sich, was es mit den kleinen Zimmern auf sich hatte.

Er traf die junge Frau, kam mit ihr ins Gespräch und notierte ihren O-Ton über den Lebensborn.

Thomas Manns Faszination für den Pappelschnee ist ebenfalls belegt.


Aus heutiger Sicht: 

Was macht Klaus Manns Biographie so interessant? 

Klaus kam 1906 zur Welt, nur ein Jahr nach der geliebten Schwester Erika. Schon als Teenager tobten sie sich kreativ aus: Sie spielten gemeinsam Theater, Cabaret und schrieben erste eigene Texte. Als „Enfants Terribles“ machten sie München und Berlin unsicher. Klaus stand offen dazu, dass er homosexuell war; eine Neigung, die sein Vater teilte, aber der große Zauberer der Worte bekannte sich aus Rücksicht vor Familie und Werk nie dazu. 

Beide Eltern warfen große Schatten der Unerreichbarkeit auf ihre Kinder: 

Vater Thomas Mann war ein international angesehener Schriftsteller, der 1929 den Nobelpreis für die „Buddenbrooks“ erhielt. Mutter Katia war klug und auffallend hübsch: 1901 schloss sie als erste Frau das Abitur in München ab und studierte anschließend Naturwissenschaften und Philosophie. 

Eine Familie mit Geschichte(n)

Neben seiner gefühlten „Zwillingsschwester“ Erika hatte Klaus noch vier weitere Geschwister: Golo, später ein anerkannter Historiker; Monika, die ihren Mann 1940 bei der Flucht von England nach Kanada verlor, als ihr Schiff angegriffen wurde; Elisabeth, eine Seerechtsexpertin und Ökologin, der wir es heute verdanken, dass unsere Meere als schützenswertes Gemeingut betrachtet werden (1); sowie Michael, ein talentierter Musiker und Germanist zugleich, der sich vermutlich das Leben nahm, nachdem er in den Tagebüchern seines Vaters gelesen hatte, dass er nicht gewollt war. (2) 

Die sorglose, experimentierfreudige Zeit war für Klaus und Erika schlagartig vorbei, als sich die Diktatur in Deutschland etablierte. 

Von Anfang an positionierte sich Klaus als erbitterter Gegner der Nazis. Schon 1933 flüchtete er ins europäische Exil, später auch nach New York. Als seine Bücher verboten wurden, notierte er im Tagebuch: 

„Gestern also sind auch meine Bücher in allen deutschen Städten öffentlich verbrannt worden (…). Die Barbarei bis ins Infantile. Ehrt mich aber.“ (3)

Klaus Mann engagierte sich im Amsterdamer Exilverlag Querido und brachte die Literaturzeitschrift „Die Sammlung“ heraus, um den vertriebenen Exilliteraten ein neues Forum zu bieten. Es begannen ruhelose Reisejahre, in denen er unter anderem sein bekanntestes Werk schrieb: „Mephisto – Roman einer Karriere“ von 1936. 

Dieses Buch ist aus gleich zwei Gründen sehr persönlich: Erstens zeichnet er darin die steile Karriere des Schauspielers Gustaf Gründgens im Dritten Reich nach, der früher ein enger Freund und sogar drei Jahre mit Erika verheiratet war. Darin wird Gründgens als „Affe der Macht“ lächerlich gemacht, ohne jede Rücksicht auf dessen Privatsphäre. 

Zweitens bezieht sich Klaus in diesem Buch auf das satirische Meisterwerk „Der Untertan“ (1918) von seinem Onkel Heinrich Mann. In diesem Buch beschreibt Thomas‘ großer Bruder eine ähnliche Mitläuferstory, aber schon viel früher, im Kaiserreich.

„Ein durchaus komödiantisches, zutiefst unwahres Regime“ 

Ab 1941 schloss sich Klaus Mann der US-Armee an und leistete eine bedeutende Aufklärungs- und Vermittlungsarbeit zwischen Deutschland und den Alliierten. Der erfahrene Journalist verhörte nun deutsche Kriegsgefangene und gewann damit tiefe Einblicke ins nationalsozialistische Selbstverständnis. 

Nach dem Krieg besuchte Klaus Mann nicht nur München, sondern interviewte viele Nazigrößen und Profiteure, darunter Herman Göring und den Komponisten Richard Strauss

Seine Schwester Erika schrieb ebenfalls über die Nürnberger Prozesse. Zuvor gelang es ihr, als eine der ersten Journalistinnen Zugang zum geheimen „Camp Ashcan“ in Luxemburg zu erhalten: In diesem ehemaligen Luxushotel waren in den ersten Wochen nach Kriegsende hochrangige NS-Entscheider interniert, bevor sie nach Nürnberg überstellt wurden. 

„Ich wünsche nicht, dieses Jahr zu überleben“ 

Für Klaus brachte die Nachkriegszeit kein Glück. Er war entsetzt, wie viele eingefleischte Nazis und Weggucker ungestraft davonkamen und ihre Karrieren nahtlos fortzusetzen konnten.  

Außerdem litt er unter der Entfremdung von seiner Schwester Erika: Denn sie bewegte sich immer mehr im Windschatten ihres Vaters, begleitete ihn auf Vortragsreisen und widmete sich ganz der Überarbeitung seines imposanten Werks. 

Klaus war also doppelt abgemeldet – ein bitterer Lohn für einen, der sein junges Leben mit hundertprozentiger Hingabe für Deutschland eingesetzt hatte. 

Sein persönliches Negativ-Highlight war, dass sein Verleger 1949 die geplante Neuauflage des „Mephisto“ verweigerte. Einfach, weil Gustaf Gründgens wieder ein Star war.  

Klaus hingegen hatte keine schriftstellerischen Erfolge mehr. In welcher Sprache sollte er auch schreiben? 

Blick in Europas Kristallkugel

Aus heutiger Sicht ist es besonders spannend, was Klaus über die politische Zukunft dachte:

Der überzeugte Europäer war sehr besorgt über die Spaltung der Siegermächte.
Das Schwarz und Weiß von Ost und West gefiel ihm nicht. Bemerkenswert ist, dass Klaus Mann schon 1946 in der Zeitschrift „European World“ die Idee zur Gründung einer Europäischen Union kritisch hinterfragte. Er fürchtete, dass Europa unter dem Druck der amerikanischen und sowjetischen Spannungen in einen neuen globalen Konflikt geraten könnte. Außerdem betrachtete er die Begeisterung für den Kapitalismus und die pauschale Ablehnung sozialistischer Ideale mit Skepsis. (4)    

Sein literarisches Schaffen, seine Familie, seine Heimat – einfach alles entwickelte sich komplett anders als gedacht. 

Nach Jahren des inneren Kampfes, wiederholten Drogenentzügen und gescheiterten Neuanfängen, nahm sich Klaus Mann 1949 in Cannes das Leben. Sein Bruder Michael spielte am Grab Bratsche; Erika und seine Eltern waren bei der Beerdigung nicht anwesend. 

Klaus Mann – unvergessen

Doch es ist nicht nur das Leben, das eine Biographie ausmacht, sondern auch das Nachleben: 

Erika verarbeitete ihre Trauer dadurch, dass sie seine wichtigsten Werke neu editierte, seinen letzten bedeutenden Essay veröffentlichte, in dem er die Entzweiung zwischen Ost- und West-Europa beklagt, und sie brachte einen Gedächtnisband zum Werk ihres Bruders heraus, für das auch Thomas Mann ein Vorwort schrieb.

Damit legte Erika den Grundstein für die Wiederentdeckung Klaus Manns als bedeutenden Autor, Pazifisten – und feinfühligen Menschen. 


Quellenangaben:

(1): Vgl. Wikipedia „Elisabeth Mann Borgese“.
(2): Vgl. Wikipedia „Michael Mann (Literaturwissenschaftler)“.
(3): Klaus Mann, Tagebucheintrag vom 11. Mai 1933. Zitiert in: Nicole Schaenzler, Klaus Mann. Eine Biographie.
(4): Nach: Armin Strohmeyr, „Klaus Mann“, München, 2000.


Eine letzte Frage:

Steht die Poschi heute noch? 

Kehren wir zur Location unserer Geschichte zurück: Die Münchener Villa der Familie Mann zog schon damals alle Blicke auf sich. Im Jahr 1915 erschien sogar eine Homestory in der Avantgardezeitschrift „Die Dame“:

„Am bewaldeten Uferhang der Isar hat er sich angesiedelt, wo man die Frauentürme sieht und am Horizont die Berge. Halb versteckt unter Bäumen liegt das Haus. Ein von Säulen getragenes Portal führt hinein … Keine Unruhe dringt in diese vornehme Abgeschlossenheit. Es gibt keinen Salon. Die Arbeitsstube des Herrn und das Zimmer der Frau sind die (…) ‚zwei Herzkammern des ganzen Heims‘ (…). Den großen runden Tisch (…) bedecken die neuesten Broschüren und Zeitschriften; die bequemen Lehnsessel neben dem Kamin laden zum Lesen ein.“ (1)

Ein Traumhaus, das die Literatenfamilie bald wieder verlassen musste. Während des Exils wurde die Villa als Niederlassung des Lebensborn e. V. genutzt und in den nachfolgenden Kriegsjahren stark beschädigt. 

Klaus Mann beschrieb sein Wiedersehen mit der Poschi in einem Brief an den Vater so: 

„Da war schon das Hallgartensche Haus – Rickis Haus: es steht noch! Und das unsere? Ja, auch unseres steht. Zunächst hielt ich es für unbeschädigt. (…) Der reine Bluff! – wie ich bei näherem Hinschauen alsbald konstatieren mußte. Das Gerüst hat standgehalten, aber nur als Attrappe und hohle Form. Drinnen ist alles wüst und ausgebrannt“. (2)

Aber dort leben konnte man trotzdem noch, mehr schlecht als recht: 

Bis 1952 wurden hier ausgebombte deutsche Familien sowie Geflüchtete aus der Ukraine und Russland einquartiert. 

Thomas Mann erhielt die Eigentumsrechte zwar später zurück, aber das Gebäude war eine einzige Ruine, sodass er dem Abriss zustimmte. In den 50er-Jahren entstand auf dem Grundstück zunächst ein Bungalow, der auch wieder abgerissen wurde. Ein deutscher Finanzmanager ließ schließlich die Villa nach historischen Plänen neu errichten, die seither privat genutzt wird. (3)

Abschließend sei noch erwähnt, dass in der Nachbarschaft – im Hause der Hallgartens nämlich – von 1945 bis 2008 die private Exil-Uni „Ukrainische Freie Universität (UFU)“ untergebracht war. Zu ihr gehörte die größte ukrainische Spezialbibliothek in Westeuropa. 

Quellenangaben:

(1) Alex Braun, Bei Thomas Mann in München. In: Die Dame. Nr. 8, 1915.
(2): Klaus Mann, Der Wendepunkt, 1984.
(3): Vgl. Wikipedia „Thomas-Mann-Villa (München)“.


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