Leseprobe: Edersee-Krimi Teil 1


Fotos: Privat
Stell dir vor, du kommst in eine gemütliche Buchhandlung. Es duftet nach Papier und frischem Kaffee. Eine Verkäuferin mit randloser Brille und leicht zerzaustem Dutt verschwindet fast hinter den Buchstapeln, die sich an der Kasse auftürmen. Sonst ist niemand da. Als du neugierig von einem Büchertisch zum nächsten schlenderst, knarzen uralte Holzdielen bei jedem Schritt.
Unter all den Büchern fällt dir ein Titel auf – „Düstere Träume“ – und erinnert dich an E.T.A. Hoffmann, dessen hypnotischer Erzählstil dich schon früher fasziniert hat.
Vorsichtig nimmst du das schmale Buch in die Hände und beginnst darin zu blättern …
Nachdem du ein paar Seiten überflogen hast, stellst du fest, dass es ein Krimi ist. Klar – kein anderes Genre, außer Fantasy, passt besser zu Hoffmann!
Neugierig liest du:
Was machte er hier? Und warum jetzt – nach all den Jahren? Sein Lächeln, selbstbewusst und leicht schief, verriet nichts. Und doch wollte sie glauben, dass er wegen ihr da war.
Sie war fest entschlossen, sich nicht von ihm aus der Ruhe bringen zu lassen. Auch, wenn sie den Vormittag über allein waren – ihr Mann arbeitete und die Kleinen waren im Kindergarten.
Noch etwas außer Atem, begann sie ein harmloses Gespräch.
„Was genau machst du eigentlich beruflich?“
„Schwer zu sagen. Ich zeig’s dir am besten.“
Seine Stimme war leise und von einer Melodie, die unweigerlich ans Englische erinnerte. Das „r“ hallte dunkel, fast samtig, und gab jedem Satz einen besonderen Klang. Wenn er sprach, spürte sie ihr altes Ich – Studentin, fasziniert, leicht nervös – durch ihre Fassade blitzen.
„Ich entwickle mit AI spezielle Modellierungen für Gaming-Kontexte. Damit kannst du deine Rachelust im Job voll ausleben. Auf den ersten Blick ist es etwas makaber. Aber stell dir vor, dein Chef hat dich zur Sau gemacht und du bist nicht der Typ, der danach heult. Du möchtest ihn bestrafen. In meinem Spiel kannst du das.“
Seine Augen funkelten, als wären sie ein Teil des Pools, in dem das Sonnenlicht kreiselnd verschwand. „Willst du es sehn?“
Auf der Suche nach E.T.A. Hoffmann, überschlägst du ein paar Seiten, und wirst sogleich fündig:
Als Edvard das vierte Bier ausgetrunken hatte, holte Willi etwas aus seinem Rucksack. Es war ein Büchlein in grauem Leinen.
„Da hab ich was für dich. Bist doch so belesen“, sagte Willi, während er sorgfältig eine Bratwurst nach der anderen umdrehte.
Edvard wischte sorgfältig die Finger an der Serviette ab und betrachtete das Buch. „Der Sandmann – E.T.A. Hoffmann“ stand in goldenen Lettern darauf. Darunter ein Paar Augen, zu Schlitzen verengt, den Leser tückisch anstarrend.
Nachdem er die erste Seite überflogen hatte, las Edvard mit leicht gespielter Betonung vor: „Dunkle Ahnungen eines grässlichen mir drohenden Geschicks breiten sich wie schwarze Wolkenschatten über mich aus, undurchdringlich jedem freundlichen Sonnenstrahl.“ Er lachte: „Ha, das passt doch gut zu meiner Rente!“
Das Papier raschelt zwischen deinen Fingern. In dieser alten Buchhandlung scheint die Zeit stillzustehen. Lächelnd liest du weiter …
Am Abend saßen sie zu dritt am Küchentisch und spielten Kniffel. Die Würfel klackerten über das Holz, die Deckenlampe warf leuchtende Muster auf die Kniffelblöcke. Edvard goss Tee mit Honig nach.
Gerade, als Jette sich zur Punktsiegerin erklären wollte, geschah es. Das Licht erlosch mit einem leisen Knistern. Plötzlich lag das Haus in tiefer Dunkelheit.
„Stromausfall“, rief Edvard überrascht. Er tastete sich zum Regal hinüber und zündete eine kleine Öllampe an. Das warme Licht flackerte und warf verzerrte Schatten auf die Wand. Für einen Moment saßen sie still da, als müssten sie erst lernen, dem Licht wieder zu trauen.
Irgendwo im Haus knackte eine Diele. Edvard zuckte zusammen, doch niemand sah es. Er dachte an das Büchlein, Willis böses Omen, und sagte mehr zu sich selbst: „Nun Kinder! – zu Bette! zu Bette! der Sandmann kommt, ich merk‘ es schon!“
Als du aufschaust, hast du plötzlich das Gefühl, dass jemand in deiner Nähe ist. Ein kurzer Blick in Richtung Kasse – doch die Verkäuferin sitzt immer noch dort, reglos in ein Buch vertieft.
Eine Gänsehaut breitet sich über deine Arme aus. Es ist, als sei ein geheimnisvoller Gast in dieser Buchhandlung, der jedes Mal verschwindet, sobald du dich umblickst …
Schließlich vertiefst du dich wieder in den Krimi:
Die Tür zum Kontrollraum fiel ins Schloss und ein leiser Nachhall vibrierte durchs leere Gebäude. Er hörte ein entferntes Gurgeln aus den Tiefen der Anlage.
Er zwang sich zur Ruhe und setzte sich ans Terminal. Er wollte sich den Vorgang noch einmal anschauen. Seine Finger klackerten über die Tastatur, als er die Logdaten aufrief – ein Programm, das wie ein Logbuch alle Abläufe automatisch erfasste. Tatsächlich: Um 4:18 Uhr – eine abrupte Unwucht. Zu schwach, um die Turbine automatisch abzuschalten, zu stark, um unentdeckt zu bleiben.
Einer bösen Vorahnung folgend, nahm er die Taschenlampe und lief hinunter in die Turbinenkammer. Die nassen Stufen glänzten im kalten Licht.
Er erreichte den Auslass, kniete sich hin und leuchtete hinab in die Tiefe. Einen Augenblick lang war nichts Ungewöhnliches zu sehen – Blätter, Äste, Dreck. Außerdem hatte sich schwarzer Plastikmüll im Rechen verfangen. Doch dann sah er es. Etwas klemmte zwischen den Gitterstäben.
Draußen beginnt es zu regnen. Unruhig trommeln die Tropfen gegen die Scheiben. Es wird dunkel. Doch du hast noch etwas Zeit, bevor die Buchhandlung schließt, und liest weiter:
Edvard fühlte sich wie festgezaubert. Unwillkürlich muss er an den todbringenden Alchimisten von E.T.A. Hoffmann denken, den widerwärtigen Coppelius. Auch er war plötzlich aufgetaucht und hatte alles an sich gerissen. Es war ein hypnotisches Wirken, ein innerer Sog, dem sich niemand widersetzen konnte.
(…)
Durch die grauenhafte Schilderung fühlte Edvard sich erneut an Hoffmanns Alchimisten erinnert: Coppelius versuchte, eine mechanische Frau herzustellen, die liebreizend und willfährig war, aber keine lebendigen Augen hatte. Diese Augen versuchte er sich zu verschaffen, indem er als Sandmann umging und sie neugierigen Kindern herausriss, die nicht brav zu Bette gingen.
Eine Textstelle kam ihm in den Sinn, die genau zum Todesopfer passte: Der bösartige Alchimist erwischte den kleinen Nathanael, der ihn heimlich bei seinen Experimenten beobachtet hatte, und misshandelte ihn zur Strafe. So klang es bei E.T.A. Hoffmann:
„‚ …aber nun wollen wir doch den Mechanismus der Hände und der Füße recht observieren.‘ Und damit fasst er mich gewaltig, dass die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein. ‘s steht doch überall nicht recht! ‘s gut so wie es war! – … So zischte und lispelte Coppelius; aber alles um mich her wurde schwarz und finster, ein jäher Krampf durchzuckte Nerv und Gebein – ich fühlte nichts mehr.“
Mit einem leisen Aufschrei drehst du dich plötzlich um – jemand steht direkt hinter dir! Dunkle Augen starren dich an. In Sekundenbruchteilen nimmst du ihn wahr: Einen Mann um die 40, klein gewachsen und mit wirren, kurzgeschnittenen Haaren. Sein Backenbart und die weiße Halsbinde geben ihm ein altertümliches Aussehen.
„Verzeihung, dürfte ich mal kurz vorbei?“ Seine Stimme klingt melodisch und düster zugleich. Die Stirn ist leicht gerunzelt, trotzdem wirkt er höflich.
„Natürlich …“ antwortest du, atemlos vor Schreck.
Doch als du ihm nachschauen willst, ist er bereits in einem versteckten Nebenraum verschwunden.
Als sich dein Herzschlag beruhigt hat, vertiefst du dich wieder ins Buch und lässt die letzten Seiten durch deine Finger gleiten:
Edvard blieb ruhig. Jetzt kam der Moment, in dem er Hoffmanns literarisches Meisterwerk auf den Prüfstand stellen musste. Tatsächlich sah Fred aus wie ein skurriles Fantom, und die Frau daneben konnte nur Olimpia sein, seine mechanische Geliebte. Mit Augen aus Stein und der Körpertemperatur einer Schlange.
Edvard atmete tief aus. Dann ging er auf die beiden zu und ließ sich ohne Vorwarnung auf den freien Sofaplatz neben ihr fallen. So knapp, dass ihre Knie sich fast berührten. Fred verzog das Gesicht.
„Tach zusammen!“, lächelte Edvard entwaffnend und seine Grübchen am Kinn vertieften sich.
„Ich bin Susi“, sagte die Frau freudig und streckte ihm die Hand hin, die überraschend warm und weich war.
„Und, was macht der Fall?“, wandte sich Edvard an Fred.
Ein unwilliges Grunzen war die Antwort. Fred hatte keine Lust, über seinen Job zu sprechen. Er wollte einfach nur trinken, plaudern und später mit der Blondine in einem freien Hotelzimmer verschwinden.
Doch Susi war neugierig geworden – sie schien noch nicht zu wissen, dass Fred Kommissar war. Sogar Hauptkommissar. Zunächst gab Fred nur ausweichende Antworten, doch schließlich erklärte er ihr mit unverblümter Eitelkeit, worum es ging. Leider dürfe er ihr aus den laufenden Ermittlungen keine Details verraten, fügte er hinzu. Dieser Fall sei wirklich ungewöhnlich grausam … Er zeigte ihr schließlich doch das Bildmaterial und betrachtete dabei ihr Gesicht, auf dem sich Ekel und Faszination vereinten.
„Und, was gibt es Neues aus deinem Dorf?“, wandte Fred sich schließlich an Edvard. Wenn er sich schon so frech dazugesellte, sollte er wenigstens ein paar Infos liefern.
Von der Kasse her ertönt ein Räuspern. „Wir schließen gleich!“, ruft die Buchhändlerin mit gedämpfter Stimme zu dir hinüber.
Du wendest dich zum Gehen. Plötzlich fällt dir wieder der mysteriöse Unbekannte ein – wo mag er nur sein?
Der Weg zur Ladentür führt am düsteren Hinterzimmer vorbei, in dem der Mann verschwunden ist … Die Tür ist nur angelehnt.
Neugierig steckst du deinen Kopf durch den Spalt – und zuckst zusammen:
Eine grässliche Gestalt, groß und breitschultrig, dreht sich langsam zu dir um. Sein Gesicht ist erdgelb und unter den buschigen, grauen Augenbrauen funkeln Katzenaugen stechend hervor.
„Da bist du ja, kleine Bestie“, ruft Coppelius mit einer heiseren, schnarrenden Stimme. „Augen her, Augen her!“
Entsetzt taumelst du zurück, willst wegrennen. Doch der Mann, der vorhin hinter dir gestanden hat, lehnt plötzlich an der Tür und schaut dich mit einem süffisanten Lächeln an.
Im seinen Armen sitzt ein behäbiger schwarzer Kater, mit einem gelblichen Fleck auf dem Pelz. Der Mann streichelt den Kater, als wollte er ihn beruhigen. Dabei klirrt das Halsband, auf dem ein Name prangt: „Kater Murr“.
„Äh … Ich wollte gerade gehen. Schönen Abend, die Herren!“ Nervös lächelnd versuchst du, langsam an ihnen vorbei zu gehen, zurück in den rettenden Buchladen.
Doch nun streckt Kater Murr seine Pfoten aus – er hält das Buch fest, in dem du vorhin geblättert hast. Du traust deinen Ohren nicht, als der Kater mit vornehmer Stimme spricht:
„Hier, bitte sehr – vergessen Sie Ihr Buch nicht!“

Düstere Träume (Teil 1)
Ein literarischer Landkrimi
Der Edersee – idyllisch und scheinbar vertraut. Doch als in einem alten Kraftwerk menschliche Überreste entdeckt werden, ist es mit der Ruhe vorbei.
Unfall oder Mord? Edvard, ein Lehrer aus Hemfurth, wird in den Fall hineingezogen. Er stößt auf eine verstörende Affäre und begegnet einem Fremden, der dem Hauptverdächtigen unheimlich ähnlich sieht – wie ein Schatten aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ …
Alle Zitate sind der folgenden Ausgabe entnommen:
E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann. In: Nachtgeschichten. Wiesbaden, 2013.
„Dunkle Ahnungen …“, S. 7.
„Nun Kinder! – zu Bette! …“, S. 8.
„… fühlte sich wie festgezaubert“, S. 11.
„… aber nun wollen wir (…) den Mechanismus …“, S. 12.
„Augen her, Augen her!“, ebenda.
