Entdecke eine traditionelle japanische Gedichtform, die dein Schreiben in eine neue Richtung führen kann! Bevor wir uns Stift & Papier schnappen und es selbst ausprobieren, klären wir zuerst:
Was genau ist ein Haiku überhaupt?
Vielleicht ist dir der Begriff schon einmal begegnet – in einem Schreibworkshop, in der Schule oder auf Social Media. Vielleicht hast du sogar schon selbst eines verfasst. Hier kommt ein kompaktes Update mit den wichtigsten Grundlagen:
Ein Haiku (japanisch: 俳句) ist eine traditionelle japanische Gedichtform, die in drei Zeilen mit 5-7-5 Silben ein flüchtiges Bild, meist aus der Natur, verdichtet. Ohne Reim und oft ohne Erklärung fängt es einen Moment ein – still, präzise und offen für Interpretation.
Besonders fasziniert mich am Haiku, dass diese offenen Gedichte sich erst im Erleben des Lesers vervollständigen. Im Text wird nur wenig gesagt, Gefühle nur angedeutet. Erst deine Gedanken machen das Bild komplett!
Ein bekanntes Beispiel:
Fliegt die gefallene Blüte zurück an den Zweig? Ein Schmetterling!
von Arakida Moritake (1473-1549)
(Anmerkung: Durch die Übersetzung variiert die Silbenzahl.)
Für dich als Schriftsteller/in und Literaturinteressierte/r bietet das Haiku eine besondere Übung in Reduktion, Beobachtung und sprachlicher Klarheit: Es schärft den Blick fürs Wesentliche, lädt zur Achtsamkeit ein und zeigt, wie viel Tiefe in wenigen Worten liegen kann.
Lohnt sich das Üben wirklich?
Ein Haiku zu schreiben kann für Autoren und Leser eine wertvolle, inspirierende Erfahrung sein – hier sind einige Gründe, warum du es ausprobieren solltest:
Fokus aufs Wesentliche
Ein Haiku zwingt dich, mit sehr wenigen Worten auszukommen (traditionell 5–7–5 Silben). Dadurch lernst du, präzise und klar zu formulieren – eine essenzielle Fähigkeit für jeden Schreibenden.
Bewusstsein für den Moment
Haikus greifen oft flüchtige, alltägliche Naturbeobachtungen auf. Dieses Innehalten und genaue Hinsehen stärkt deine Fähigkeit zur Achtsamkeit – sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen.
Kreativer Minimalismus
Die formale Begrenzung (Silbenstruktur, kein Reimzwang, meist Naturbezug) ist eine kreative Herausforderung. Gerade diese Einschränkung setzt oft überraschende Impulse frei.
Andere Kultur, anderer Blick
Das Haiku stammt aus Japan und trägt eine tiefe kulturelle und philosophische Tradition (Zenkultur, Naturverbundenheit, Vergänglichkeit). Sich darauf einzulassen, erweitert den eigenen Horizont. Damit wird das Schreiben zur kleinen Reise in eine andere Denkweise.
Sofortiger Einstieg – ohne Druck
Ein Haiku ist kurz, du brauchst kein großes Projekt. Gerade wenn du wenig Zeit hast oder feststeckst, kann ein Haiku neue Energie bringen – ein sofortiges Erfolgserlebnis.
Drei Zeilen – und du hast ein Gedicht geschaffen!
Wie schreibe ich ein Haiku?
Hast du Lust, dir einen Moment Zeit zu nehmen und es auszuprobieren? Dann lass uns zur Feder greifen!
Noch kurz für alle, die nicht sicher sind, was eine Silbe ist:
Eine Silbe ist ein Lautabschnitt eines Wortes, die sich um einen Vokal (a, e, i, o, u) bildet. Beim Klatschen kannst du sie gut hören: Für jede Silbe klatschst du einmal.
So lässt sich ein Haiku leicht auf seine 5–7–5-Silbenstruktur prüfen – einfach laut sprechen und mitklatschen!
Ich persönlich gehe pragmatisch mit der Silbenzahl um – wenn es nicht hundertprozentig passt, ist es auch nicht schlimm. Die Stimmung zählt!
Ein Haiku schreiben – Schritt für Schritt
Als Material benötigst du zwei Blätter oder einfach eine neu aufgeschlagene Doppelseite in deinem Notizbuch.
Die linke Seite ist für deine Notizen – auf der rechten entsteht dein Haiku.
Hier erstellst du dir nun eine Schablone: Mache in 3 Zeilen jeweils 5, 7 und 5 Unterstriche. Darauf kannst du deine Silben einfach platzieren, ohne viel zählen zu müssen. Eine praktische Schablone für dein Haiku!
Alles fertig? Dann kann es nun losgehen:
1. Wähle einen Moment oder eine Beobachtung
Nimm etwas Konkretes und Sinnliches – oft aus der Natur: z. B. fallende Blätter, Nebel am Morgen, ein Vogelruf.
Tipp: Achte auf das, was du siehst, hörst, fühlst oder riechst – ein starker Haiku lebt vom Detail.
2. Spüre die Stimmung
Was macht dieser Moment mit dir? Ein Haiku beschreibt nicht nur was ist, sondern lässt eine Stimmung mitschwingen: Ruhe, Melancholie, Staunen, Vergänglichkeit.
3. Form: 3 Zeilen, 5–7–5 Silben
1. Zeile: 5 Silben
2. Zeile: 7 Silben
3. Zeile: 5 Silben
Traditionell wird auf Reime verzichtet, auch Satzzeichen sind optional. Die Sprache sollte einfach, klar und direkt sein.
4. Vermeide Erklärungen – zeige, statt zu sagen
Statt „Ich bin traurig“ lieber: Leerer Gartenstuhl – Regen tropft von der Markise – niemand spricht ein Wort.
Lass das Bild für sich sprechen.
5. Feinschliff: Kürzen, schärfen, verlangsamen
Lies dein Haiku laut. Klingt es ruhig und bildhaft? Stimmt der Rhythmus? Streiche alles, was zu viel erklärt oder ablenkt.
Bonus: Saisonwort & Gedankenschnitt
In der japanischen Tradition enthält ein Haiku oft ein Kigo (Jahreszeitenwort) und ein Kireji (Schneidewort). Das ist kein Muss – aber spannend zu erkunden, wenn du tiefer eintauchen willst.
Ein Kigo weist auf eine bestimmte Jahreszeit hin und gibt dem kurzen Gedicht sofort einen größeren Kontext.
Typische Beispiele:
Frühling: Kirschblüte, erste Knospen, Schmetterling
Sommer: Glühwürmchen, Gewitter, Hitze
Herbst: fallende Blätter, Nebel, Kraniche
Winter: Schnee, Frost, kahler Baum
Ein Kireji hingegen ist ein „Schneidewort“, das einen Bruch und damit Spannung erzeugt.
Wirkung des Kireji:
erzeugt einen Kontrast oder Perspektivwechsel
bringt Tiefe, Überraschung oder Nachklang
trennt zwei Bilder oder Gedanken, die sich ergänzen
Das oben zitierte Haiku mit dem Schmetterling ist dafür ein schönes Beispiel.
Kigo und Kireji geben deinem Gedicht also noch mehr Struktur, Stimmung und eine zweite Bedeutungsebene. Gerade für Autor/innen lohnt es sich, diese Elemente als poetische Werkzeuge auszuprobieren.
Und nun: Beobachte – notiere – verdichte. Dein Haiku beginnt dort, wo du innehältst.
Zum Schluss noch ein kleines Special für alle Krimi-Fans:
Das klassische Haiku ist eng mit der Natur verbunden – doch genau hier beginnt deine kreative Freiheit: Du kannst das Prinzip übernehmen und in ein ganz anderes Genre übertragen! Wie wäre es zum Beispiel mit einem Krimi?
Statt idyllischer Stille – flackerndes Licht im Keller. Statt Blütenduft – der Geruch von altem Metall. Statt Kranich im Abendrot – ein Schatten im Türrahmen.
Ein sogenanntes Krimi-Haiku oder Dark Haiku greift die formale Struktur (3 Zeilen, 5–7–5 Silben) auf, erzeugt aber bewusst eine unheimliche, düstere oder spannungsgeladene Atmosphäre.
Ideal für Autor/innen, die effizient mit Sprache umgehen und düstere Gefühle ausloten wollen – und vielleicht sogar eine ganze Szene in nur drei Zeilen erzählen …
Warum also nicht einmal das Genre wechseln – und den Schrecken verdichten?
Short Story vs. Kurzgeschichte – was macht den Unterschied?
Hast du dich auch schon gefragt, was genau der Unterschied zwischen einer Short Story und einer Kurzgeschichte ist? Sind es einfach nur englische und deutsche Bezeichnungen für Dasselbe – oder steckt mehr dahinter?
Short Story – mitten ins Leben gegriffen
Die Short Story stammt aus dem angloamerikanischen Raum und ist vor allem in der US-amerikanischen Literatur tief verwurzelt. Eine der ersten Kurzgeschichten der Weltliteratur ist „The Legend of Sleepy Hollow“ (Washington Irving, 1820).
Aber auch Autoren wie Edgar Allan Poe, Ernest Hemingway und Katherine Mansfield haben das Genre geprägt.
Gut zu wissen: Die Short Story ist eng mit der Entwicklung des Zeitschriftenwesens im 19. Jahrhundert verknüpft. Denn kurze Texte ließen sich leichter abdrucken und fanden ein breites Publikum – damit boten sich den Autor/innen neue Verdienstmöglichkeiten.
Beispiel: Ernest Hemingways „Hills Like White Elephants“
In diesem Meisterwerk von 1927 entspinnt sich ein scheinbar belangloses Gespräch zwischen einem Paar an einem Bahnhof in Spanien. Zwischen den Zeilen entdeckst du jedoch, dass es um eine Abtreibung geht. Hemingway verzichtet auf jede direkte Aussage – stattdessen dominiert sein berühmtes „Iceberg Principle“: nur ein kleiner Teil ist sichtbar, der Rest liegt unter der Oberfläche. Eine Technik, die für die Short Story typisch ist.
Aber was ist dann eine Kurzgeschichte?
Auch die Kurzgeschichte ist ein Kind der literarischen Moderne – knapp, pointiert, alltagsnah. In der deutschen Literatur hat sie seit den 1950er-Jahren einen festen Platz, geprägt unter anderem durch Autoren wie Wolfgang Borchert, Heinrich Böll oder – ein schönes Beispiel aus neuerer Zeit – Judith Hermann.
Damit ist der Unterschied vor allem historischer Natur: Die „deutsche Kurzgeschichte“ ist das Produkt der sogenannten Trümmerliteratur nach 1945. Sie stand für einen literarischen Neuanfang in einfacher Sprache und klarer Form – als bewusste Abgrenzung von der pathetischen, ideologisch aufgeladenen Literatur der NS-Zeit.
Mehr Unterschiede sind nicht zu finden – stattdessen viele Gemeinsamkeiten. Genau wie die Short Story verzichtet die Kurzgeschichte radikal auf Ausschmückung. Es gibt meist keine Einleitung, sondern du wirst direkt in eine Situation geworfen. Die Figuren sind oft namenlos, das Setting karg. Der Schluss? Offen, manchmal verstörend – erfordert deine eigene Deutung.
Beispiel: Wolfgang Borcherts „Das Brot“
In dieser Nachkriegskurzgeschichte (1947) geht es um ein älteres Ehepaar. In einer Nacht ertappt die Frau ihren Mann dabei, wie er heimlich Brot isst – ein stiller Verrat in Zeiten der Knappheit. Was folgt, ist ein leiser, spannungsgeladener Dialog. Kein dramatischer Höhepunkt, keine große Geste – aber eine erschütternde Tiefe, die lange nachhallt.
Es geht aber noch mehr!
Doch es gibt auch Short Storys & Kurzgeschichten, die auf die lakonische Erzählweise verzichten und viel opulenter gestaltet sind. Sie arbeiten auch stärker mit dramaturgischen Mitteln wie Spannungsaufbau, Plot-Twist oder einem pointierten Ende.
Diese Varianten bieten mehr narrative Tiefe: Charaktere sind klarer gezeichnet, die Handlung durchdachter konstruiert – fast schon wie ein Mini-Roman.
Ein perfektes Beispiel für eine solche opulent erzählte Short Story ist The Garden Party von Katherine Mansfield. Im Unterschied zu Hemingway und Borchert arbeitet sie mit viel atmosphärischer Dichte, detailreichen Beschreibungen und psychologischer Tiefe. Die Geschichte entfaltet sich fast beiläufig, doch gerade in dieser Leichtigkeit liegt ihre Kraft: Der Kontrast zwischen Partystimmung und existenzieller Armut trifft mitten ins Herz.
Laura, die Hauptfigur, bereitet mit ihrer Familie ein Gartenfest vor. Doch als sie erfährt, dass ein armer Kutscher in der Nachbarschaft tödlich verunglückt ist, möchte sie das Fest absagen. Ihre Familie hingegen reagiert kühl und verständnislos. Am Ende wird Laura mit einer Realität konfrontiert, die ihre privilegierte Welt ins Wanken bringt – ein Wendepunkt in ihrem sorglosen Denken.
Auf den ersten Blick haben die Arbeiten von Hemingway, Borchert und Mansfield viele Gemeinsamkeiten: Sie sind kurz, konzentrieren sich auf einen Ausschnitt des Lebens und verzichten auf große epische Bögen. Doch bei genauerem Hinsehen wird klar:
„Das Brot“ und „Hills Like White Elephants“ fallen durch ihre lakonische Erzählweise und viele Wiederholungen auf. Es fühlt sich an wie belangloser Alltag. Und doch stecken beide Geschichten voller Gesellschaftskritik – sie wollen irritieren, nachdenklich machen und leben von ihrem offenen Ende.
„The Garden Party“ hingegen ist opulenter, setzt auf starke Gefühle und detaillierte Beschreibungen. Mit einer scheinbar zufälligen Struktur und einem spürbar kritischen Subtext baut Mansfield eine unvergleichliche innere Spannung auf, die viel emotionaler ist als bei Hemingway und Borchert.
Fazit: Zwei Seiten derselben Medaille?
Ja und nein. Du kannst beides synonym setzen, da der Begriff zuerst im Englischen geprägt und dann einfach ins Deutsche übersetzt wurde. Aber bei näherem Hinsehen sind Short Story und Kurzgeschichte nicht einfach austauschbare Begriffe, denn sie entstammen unterschiedlichen literarischen Traditionen. Und die deutsche Kurzgeschichte hat einen ganz speziellen historischen Background.
Wenn Du selbst schreibst, lohnt es sich, beide Formen (lakonische vs. opulente Erzählweise) auszuprobieren. Und wenn Du liest, achte mal bewusst auf die feinen Unterschiede!
Hier kannst du alle drei Geschichten direkt nachlesen:
Ernest Hemingway: „Hills Like White Elephants“, 1927: Zu: Archive.org
Katherine Mansfield: „The Gardenparty“, 1922: (Hier musst du etwas herunterscrollen, weil in diesem Band mehrere Short Storys sind.) Zu: Gutenberg Projekt
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Kennst du das Gefühl, medial verschlungen zu werden? Wenn man all die professionellen Social-Media-Posts durchscrollt und das eigene kreative Schaffen plötzlich bedeutungslos erscheint?
In solchen Momenten bietet uns Edith Södergran (1892 – 1923) eine großartige Lektüre. Es lohnt sich wirklich, das Smartphone beiseite zu legen und stattdessen im Werk dieser skandinavischen Dichterin zu blättern. Denn ihre Lyrik liest sich wie ein Stoßgebet für unser Selbstbewusstsein: Sie ruft dazu auf, unbedingt an das eigene Können zu glauben – egal, wie trostlos die Realität gerade aussieht.
Hier kommt eine – völlig unbescheidene – Kostprobe:
„Ich bin keine Frau. Ich bin ein Neutrum.
Ich bin ein Kind, ein Page und ein kühner Entschluß,
ich bin ein lächelnder Streifen einer scharlachroten Sonne (…) ich bin ein Sprung in die Freiheit und das Selbst …
Ich bin des Blutes Flüstern im Ohr des Mannes,
ich bin ein Fieber der Seele, Sehnsucht und Verweigern des Fleisches,
ich bin ein Eintrittsschild zu neuen Paradiesen.
Ich bin eine Flamme, suchend und furchtlos,
ich bin ein Wasser, tief aber dreist bis an die Knie,
ich bin Feuer und Wasser ehrlich vereint in freiem Entschluß …“ (1)
Wer schreibt so? Wer hat diese Tonality, die es locker mit jedem prahlenden Post und vor Ego strotzenden Blog aufnehmen könnte?
Edith Södergran (1892 – 1923) war eine finnlandschwedische Dichterin, die heute als Pionierin der modernen nordischen Lyrik gilt. In lebendigen und frei assoziierenden Bildern schildert sie ihre Welt, die von Krankheit, Einsamkeit und Armut geprägt war – und trotzdem fast vor Selbstbewusstsein platzt.
Im Feuermeer des Lebens
Ihre Eltern hatten den Grundstein für ihr Leben gut gelegt: Edith Södergran stammte aus einem gebildeten Elternhaus, der Vater war Ingenieur und ihre Mutter die Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten. Die Familie bezog eine Villa am Onkamo-See in Raivola – ein Urlaubsort, der damals zum russischen Großfürstentum Finnland gehörte und als „Riviera der Zarenzeit“ galt.
Mutter Helena las ihr deutsche Märchen vor und sorgte dafür, dass Edith als Zehnjährige auf eine deutsche Eliteschule in St. Petersburg wechselte. Kein Wunder, dass Edith Södergran später mit Begierde Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche las. Ihre ersten Gedichte schrieb Edith Södergran übrigens auf Deutsch – und bezeichnete es als ihre „beste Sprache“ (2).
Als ihr Vater an Lungentuberkulose erkrankte und sie sein langsames Sterben mitansehen musste, war sie erst fünfzehn Jahre alt. Ein Jahr später bekam sie die gleiche Diagnose. Von nun an verbrachte sie viel Zeit in Sanatorien – und schrieb.
Ediths Lyrik ist von überwältigenden Gefühlen geprägt, zu denen Expressionismus und Symbolismus wunderbar passen. Beispielsweise schreibt sie als junges Mädchen über ihre Menstruation, die sie mit einem Sonnenuntergang vergleicht. Alles kreist um Individualität, mystisches Erleben und die unbeugsame innere Kraft der Frau, der selbst der Tod nichts anhaben kann.
Große Lyrik, geringe Performance
Trotzdem war Edith Södergran zu ihrer Zeit eine Außenseiterin. Denn ihr avantgardistischer Stil wurde von der damaligen Kritik komplett missverstanden. Sie ließ die Tradition hinter sich, brauchte keine festen Rhythmen und Reime und irritierte auch mit ihrer persönlichen, überaus selbstbewussten Themenwahl. Sie traf einfach nicht die Erwartungen der Leserschaft – und wollte es auch gar nicht.
Kurz nachdem die 24-Jährige ihr erstes Buch „Gedichte“ (1916) veröffentlicht hatte, veränderte sich ihr Leben nochmals rapide zum Schlechten: Die russische Oktoberrevolution beendete das Zarentum – Edith und ihre Mutter, die ihr gesamtes Vermögen in russische Staatsanleihen gesteckt hatten, rutschten an den Rand der Armut. Teure Kuren in der Schweiz waren nun nicht mehr drin.
Nur eine Freundin, die finnische Schriftstellerin Hagar Olsson, unterstützte sie, auch wenn sie auf privater Ebene oft von Ediths besitzergreifender Art überfordert war. Schon bei ihrem ersten Besuch bat Edith die Kollegin ungeniert darum, ein Stück Seife mitzubringen – ihre finanzielle Situation war auf dem Tiefpunkt – und sie schrieb ihr:
„Ich beginne gleich mit meiner Offensive, ich möchte, daß Sie mich als den sehen, der ich wirklich bin, und Sie sich mir als den zeigen, der Sie sind. Können wir so göttlich miteinander umgehen, daß alle Schranken fallen? (…) Sind Sie das Feuermeer, in das ich tauchen möchte?“ (3)
Obwohl Edith schwer krank war und in einem unbedeutenden Provinznest lebte, hinderte sie nichts daran, in ihrem Zimmer Gedichte zu schreiben, die vor Kraft bersten. In ihrer Einleitung zum zweiten Gedichtband „Septemberlyra“ (1918) erklärt sie:
„Meine Selbstsicherheit beruht darauf, daß ich meine Dimensionen entdeckt habe. Es steht mir nicht zu, mich kleiner zu machen als ich bin.“ (4)
Der feuilletonistische Shitstorm ließ nicht auf sich warten: Ihre außergewöhnliche Lyrik wird als Selbstüberhöhung gewertet, als „Verse eines nietzscheverrückten Frauenzimmers“ und „Lachpillen einer Wahnsinnigen“ verspottet. (5)
Es ist, als habe Edith Södergran einen Blick voraus geworfen und genau gewusst, dass sie heute als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der nordischen Moderne gefeiert wird.
Die Freiheit unserer digitalen Welt
Stell dir vor, Edith würde in unserer Zeit leben: Vielleicht betriebe sie von ihrem Krankenbett aus einen Social-Media-Kanal und schickte ihre bestärkenden Botschaften rund um den Globus! Schließlich passen Ediths Arbeitsweise und Selbstverständnis genau in unsere moderne Welt – man könnte sagen, sie war ihren Zeitgenossen um hundert Jahre voraus.
Besonders dieses Gedicht zeigt, wie originell und energiegeladen Edith Södergran ihr eigenes Schaffen in Szene setzt:
„Ich will ungeniert sein –
darum pfeife ich auf edlen Stil,
die Ärmel kremple ich auf.
Ich bin eine Bäckerin mit heißen Wangen.
Der Teig des Gedichtes gärt …
O ein Kummer –
Daß ich keine Kathedrale backen kann …
Hoheit der Formen –
inständiges Sehnsuchtsziel.
(…)
Bevor ich sterbe,
backe ich eine Kathedrale.“ (6)
Es gibt also keinen Grund, als Künstler/in zurückhaltend zu sein: Edith Södergran fordert uns heute dazu auf, uns auszuloggen, um in aller Ruhe die eigene Kreativität zu kneten, unsere Ideen gären zu lassen und sie dann in maßlose Formen zu bringen.
Ihre Botschaft lautet: Anstatt die endlose mediale Selbstbeweihräucherung zu verfolgen, können wir einfach unsere eigene Kathedrale in den Ofen schieben.
Denn heute ist der perfekte Tag für einen kühnen Entschluss!
Quellenangaben: (1) Södergran, Edith: „Vierge moderne“. Zitiert nach: Pietraß, Richard (Hg.): „Edith Södergran. Klauenspur. Gedichte und Briefe“. Leipzig, 1990. (2) Aus: Rosenkranz, Jutta. „Zeile für Zeile mein Paradies. Bedeutende Schriftstellerinnen“. München, 2014. (3) Ebenda. (4) Södergran, Edith. Aus dem Vorwort zu „Septemberlyra“, 1918. Zitiert nach: Pietraß, Richard (Hg.): „Edith Södergran. Klauenspur. Gedichte und Briefe“. Leipzig, 1990. (5) Vgl. Rosenkranz, Jutta. „Zeile für Zeile mein Paradies. Bedeutende Schriftstellerinnen“. München, 2014. (6) Zitiert nach: Ebenda.
Man sagt, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und damit sind die großen Schicksalsereignisse gemeint. Doch was ist mit den Alltagstragödien, die nicht größer als ein Schuhkarton sind oder gar als Warensendung durchgehen? Wer will sie schon gern den ganzen Tag mit sich herumschleppen?
Unsere S-Größen-Probleme sind etwas Besonders: Denn wir bekommen sie nicht vom Schicksal auferlegt, sondern füllen sie selbst. Jeden Tag mit grauen Sorgenfetzen, abgetragenen Meinungen und etwas Sehnsuchtsglitter.
Mit den Jahren stapeln sie sich überall im Haus. Nur noch schmale Wege bleiben frei; Trampelpfade durch den Alltag.
Doch eines Morgens komme ich die Treppe hinab und sehe mich staunend um: All die umherliegenden Päckchen – vom büchergroßen bis zum dominosteinkleinen – sind mit farbenfrohem Geschenkpapier umhüllt, das mir erwartungsvoll entgegenschimmert.
Es passiert nicht nur im echten Leben, sondern auch in der Literatur:
Manchmal lernt man Menschen – oder eben Autoren – völlig neu kennen und fragt sich, wieso man diese Seite nicht schon viel früher entdeckt hat!
So ging es mir mit Klaus Mann (1906 – 1949), den viele nur als Sohn des Nobelpreisträgers Thomas Mann (1875 – 1955) kennen.
Klaus führte ein Bohèmeleben: Er reiste von Metropole zu Metropole, nahm Drogen und machte kein Geheimnis daraus, dass er auf Dates mit Matrosen stand. Als sein Vater den Literaturnobelpreis erhielt, musste er einen Teil des Geldes opfern, um die Schulden auszugleichen, die Klaus und seine Schwester Erika auf ihrer Weltreise angehäuft hatten.
Kein Wunder also, dass ich Klaus als Enfant Terrible der 1920er Jahre in Erinnerung hatte!
Bildquelle: gemeinfrei
Umso überraschender war es für mich zu lesen, dass Klaus Mann es seine „heiligste Aufgabe“ nannte, als Exilschriftsteller gegen die Nazidiktatur zu kämpfen.
Während Thomas Mann sich noch vor einer klaren politischen Positionierung drückte, gründete sein Sohn bereits 1933 die Exilzeitschrift „Die Sammlung“, um den vertriebenen Autorinnen und Autoren eine neue Reichweite zu verschaffen.
Darüber hinaus war er Kriegsreporter: Im Auftrag der US-Armee interviewte er zahlreiche deutsche Gefangene – vom einfachen Soldaten bis zu Nazigrößen.
Dadurch entwickelte er ein untrügliches Gespür für die vielen Facetten der nazideutschen Seele, wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit.
Mein Label des „Skandal-Sohns“ passte nicht – das wurde mir schnell klar. Aber wer war er dann? Was trieb ihn an? Und woher kam seine beeindruckende politische Weitsicht?
Eine Lektüre, die mich fesselte, begann. Daraus entstand eine historische Kurzgeschichte, die ich dir hier vorstelle.
Komm mit auf eine Zeitreise ins Jahr 1945 und lerne den Deutschen Exilschriftsteller Klaus Mann näher kennen!
Ein hübscher, nicht mehr ganz junger Soldat schlenderte durch München. Er trug die olivfarbene Uniform des US-Militärs, über dem zerknitterten gelbbraunen Hemd war locker eine schwarze Krawatte gebunden. Mit dem sommerbraunen Teint und seinen dunklen, mit Pomade zurückgekämmten Haaren wirkte er südländisch. Unter der hohen Stirn blickten verträumte Augen. Es war Klaus Mann, Sohn des weltbekannten Schriftstellers Thomas Mann, der mit dem Zug von Rom nach München gereist war, um als Kriegskorrespondent über das besiegte Deutsche Reich zu berichten.
Im Kalender stand der 9. Mai 1945 – Tag eins nach Kriegsende. Nach zwölf rastlosen Jahren im Exil betrat Klaus wieder deutschen, betrat er Heimatboden.
Schon den ganzen Vormittag über hatte er den zerbombten Bahnhof und die Innenstadtruinen inspiziert. Er war im Auftrag der amerikanischen Militärzeitung „Stars and Stripes“ unterwegs, für die er schon länger Artikel und Flugblätter schrieb. Mit leichten Füßen umtänzelte er die Löcher im Boden und ging so lässig an den Haufen mit kaputten Ziegeln und Schutt auf dem Gehweg vorbei, als existierten sie gar nicht.
Doch seine Gelassenheit täuschte, denn Klaus arbeitete hochkonzentriert. Im Notizbuch, das er gelegentlich aufblätterte, etwas hineinkritzelte und dann wieder unter den Arm klemmte, hielt er alle wichtigen Details fest. Akribisch dokumentierte er die Trümmerhügel entlang der Straßen, die noch stehengebliebenen und teils abgebrochenen Häuserfassaden. Selbst verschonte Häuser wiesen faustgroße Einschusslöcher, Risse in der Fassade und kaputte Fenster auf. Später würde er als Fazit niederschreiben:
„München ist tot; die Stadt existiert nicht mehr. Was einmal als die schönste Stadt Deutschlands galt, als eine der attraktivsten Städte Europas, hat sich in einen riesigen Friedhof verwandelt. (…) Es war wie ein böser Traum.“ (1)
Wiedersehen mit Poschi
Nach einem kurzen Lunch mit den amerikanischen Kameraden ging Klaus erneut auf Entdeckungstour. Diesmal führte ihn sein Weg ins wunderschöne Villenviertel am Herzogpark. Er wollte seinen Eltern Katia und Thomas Mann sowie den Geschwistern, allen voran seiner Fast-schon-Zwillingsschwester Erika, berichten, was aus ihrer Familienvilla in der Poschingerstraße 1 geworden war. Das Dichterhaus, in dem Thomas Manns Erzählungen „Herr und Hund“ sowie „Unordnung und frühes Leid“ entstanden waren. Auch Klaus‘ literarisches Schaffen hatte hier seine Wurzeln.
Es gab ihm eine tiefe Genugtuung, vor Erika am Elternhaus einzutreffen. Denn auch die ehrgeizige Schwester war als Kriegsreporterin unterwegs und ihr paralleles Schaffen glich einem Wettlauf. Schon bald würde auch Erika nach Deutschland kommen, um Nazipromis zu interviewen.
Ob die Villa „Poschi“, wie die Mann-Kinder ihr Zuhause nannten, die Fliegerangriffe überstanden hatte?
Klaus nahm einen Umweg, weil er unbedingt an der flach und unbekümmert dahinplätschernden Isar entlanggehen wollte. Er brauchte jetzt den frischen Geruch nach Fluss und Wiesen, um den Gestank verkohlter Häuser und den Staub in den Nasenlöchern wieder loszuwerden.
Und außerdem hoffte er auf Schnee.
Denn entlang der Uferpromenade standen Pappeln, die mit ihren langen, bizarren Zweigen wie gespenstische Veteranen aussahen, in Reih und Glied. Doch jeden Mai sorgten sie für einen atemberaubenden Zauber, indem sie ihre Samen, die in federleichten Flaum gehüllt waren, wie Schneeflocken durch die Lüfte schickten. Die ganze Allee und die Wiese vor dem Fluss waren dann davon bedeckt.
Selbst der stocksteife Hausherr Thomas Mann freute sich wie ein Kind über diesen „Sommerschnee“ und liebte es, eine Handvoll Pappelwolle aufzusammeln und in den Himmel zu pusten.
Der Kontrast zur verwüsteten Innenstadt könnte nicht größer sein. Es war, als hätte die Natur den Krieg einfach weggelächelt. Genauso wie vor zwölf Jahren sangen die Amseln in den alten Bäumen ihre Lieder, so feierlich und rein, dass es Klaus tief ins Herz ging.
In den Gärten reckten sich Tannen wie frisch gespitzte Bleistifte in den blauen Frühlingshimmel. Eine Formation Blesshühner flog über Klaus hinweg und landete schnatternd und spritzend im Fluss. Erleichtert registrierte er, dass mehrere Villen unversehrt waren, sicher geborgen unter dem maigrünen Schirm der Bäume.
Aus der Ferne hörte er das hohle Klack-Klack von Ziegeln, die in zügigem Tempo auf einen Haufen geworfen wurden, so als sei man schon mitten im Wiederaufbau. Aufmerksam hielt Klaus Ausschau nach bekannten Gesichtern. Eine Dame mit elegantem Kinderwagen promenierte vorüber, zwei magere Lausbuben in Lederhosen rannten am Flussufer entlang. Ansonsten war die Allee menschenleer. Es gab niemanden, der sagte:
„Mensch, bist du der Klaus?“
Und: „Dieses Flugblatt, ist das von dir geschrieben? Weißt du, wenn sie abgeworfen wurden, hab ich erst so getan, als interessierten sie mich nicht, und wenn keiner schaute, da hab ich zugegriffen. Ein ganzer Stapel liegt im Schuppen, gut versteckt. Denn diese Flugblätter sind für mich so eine Art Lebensgarantie. Ich denk mir: Wenn die Alliierten kommen und ich schwenke ihre Flugblätter in den Händen, dann dürfen sie mich nicht erschießen!“
Oder auch: „Ach, Klaus, alter Junge! Du hast ja all die Zeit Recht gehabt! Eure Arbeit im Exil, das war ein echtes Himmelfahrtskommando. Hätt‘ nicht jeder durchgehalten. Hut ab vor den Manns!“
Tsst, Tagträume. Noch drei Häuser, noch zwei. Die Poschi verbarg sich unter den Bäumen, als wollte sie die Begegnung verspielt hinauszögern. Dann sah er das rot geziegelte Dach mit den zwei Kaminen, die schneeweiße Fassade – und ein Schuttberg sackte von seiner Brust, denn die Villa schien unversehrt.
Fritzi, der Soldat
Das Herzklopfen wurde stärker, als Klaus die versteckte Zaunlücke suchte und sich hindurchzwängte, sorgsam bedacht, die gute Uniform nicht zu zerreißen.
Die pinken Pfingstrosen und Rhododendron wucherten, als seien die Büsche seit Jahren nicht gestutzt worden. Sie blühten um die Wette, dass die alten Zweige das Gewicht der Blütenpracht kaum halten konnten. Die Luft duftete wie damals, wenn das Stubenmädchen Waschtag veranstaltete. Erfüllt vom frühlingshaften Glück, storchte Klaus wie ein kleiner Junge über Gras, Brennnesseln und Brombeerranken.
Plötzlich fühlte er unter seiner rechten Sohle etwas Hartes, das nicht die Form eines Steins hatte. Er bückte sich – und hielt seinen Fritzi in den Händen! Fritzi, das war sein heißgeliebter Holzsoldat, der mit seinem fein geschnittenen, bubenhaften Gesicht mehr nach Streichen aussah als nach Strammstehen und Schießen. Auch wenn das Holz über die Jahre grau und rissig geworden war, betrachtete Klaus die Figur mit Kinderaugen und ließ schemenhafte Bilder in seiner Erinnerung aufsteigen.
Er sah Katia, seine Mutter, wie immer korrekt gekleidet mit hochgestecktem braunen Haar, das ihr mädchenhaft bleiches Gesicht umgab. Zwischen angestrengt zusammengepressten Lippen sprach sie: „Es gibt keinen Soldaten zum Spielen. Du weißt, der Vater liebt es nicht!“
„Aber alle Jungs haben Zinnsoldaten“, brüllte der kleine Klaus aufstampfend und dachte gleichzeitig darüber nach, wie er ebenso gut heimlich bei den Kindern in der Nachbarschaft die begehrten Zinnsoldaten ertauschen könnte – ohne die elterliche Zustimmung. Am besten gleich ein Set, um den Ersten Weltkrieg nachzustellen und den Gegnern so richtig auf die Mütze zu hauen. Das Problem bestünde nur darin, die Soldaten vor den neugierigen Geschwistern geheimzuhalten. Doch wie sollte er dann damit spielen – und mit wem?
Glücklicherweise hatte auch das Kindermädchen den Streit mitgehört, wie alles, was im Haus geschah, und sie kannte da einen aus ihrer Verwandtschaft, der Alraun-Männchen schnitzte, und wenn er Glücksbringer herstellen konnte, dann doch sicher auch einen Soldaten. So entstand Fritzi. Und das Gute war, dass Fritzi so hübsch und unschuldig aussah, dass sogar der Vater das Schnitzwerk lobte. Er befand, das Gewehr auf Fritzis Rücken sehe eher aus wie ein riesiger Füllfederhalter, und mit diesen Worten war das Spielzeug abgesegnet.
Sein Fundstück fest in der Hand, umrundete Klaus nun die Villa, um das Portal zu erreichen. Wenn er sie von vorn betrachtete und dabei die Augen unscharf zusammenkniff, erinnerte ihn das Gebäude an das Gesicht seines Vaters:
Das Dach mit den akkuraten Gauben war die sorgfältig gescheitelte Frisur, die oberen Fenster blickten wie strenge Augen herab, in der Mitte der Balkon als kräftige Nase und das Portal ein wortloser Mund.
“You can’t go home again!“
Doch je näher er der Haustür kam, desto unsicherer wurden seine Schritte. Es war ein bisschen wie beim Nachhausekommen damals, wenn das Essen verpasst war und der elterliche Ärger den höchsten Bücherstapel in Vaters Arbeitszimmer überragte.
In seinem Gang war nichts Verspieltes mehr; er schob die Füße tastend voran wie ein alter Herr. Beim genauen Betrachten ließen sich auch die Spuren seines jahrzehntelangen Drogenkonsums nicht verleugnen: Die wächserne Haut mit der schlecht heilenden Kratzwunde an der Stirn, die gekrümmte Körperhaltung und angespannten Glieder. Auch heute waren seine Pupillen leicht verengt.
Unaufhaltsam breitete sich ein diffuses Gefühl der Unsicherheit in ihm aus; es verdrängte die kindliche Freude, endlich heimzukehren.
Er begann zu grübeln: Was wäre, wenn ihn die deutsche Öffentlichkeit nicht mit freudigem Respekt empfing?
Sondern ihn dafür verachtete, dass er 1933 geflüchtet war, während das Volk die Sonnenstunden genoss und beim anschließenden Bombengewitter den Kopf einzog und ausharrte? Klaus hörte schon den stillen Vorwurf: Was wäre aus Deutschland geworden, wenn alle ihre Koffer gepackt und zwischen Südfrankreich, Amsterdam, der Schweiz und den USA hin- und hergependelt wären?
Auch der Disput mit dem – einst bewunderten – Schriftsteller Gottfried Benn streifte seine Gedanken: Benn sprach allen Emigranten rundheraus das Recht ab, die Lage in Deutschland zutreffend zu beurteilen. In einem Satz: Du hast ja keine Ahnung!
Schon bald würden andere deutsche Männer heimkehren, aus der Kriegsgefangenschaft, und ihre Geschichten erzählen. Mit ihnen würde Klaus dann verglichen werden. Und er spürte, dass er dabei nicht gut abschnitt, denn er, der Prominentensohn, kam scheinbar nur von einer weiteren Weltreise zurück. Und das auch noch in gutsitzender Feindesuniform.
Vielleicht darf ich nicht heimkehren, ohne abgeschossenen Finger, der mir das Schreiben erschwert? Die Soldaten erkennen einander am hohlen, starrenden Hungerblick, der manchmal aufflackert wie eine böse Erinnerung.
Müsste ich nicht irgendwo anders sein? Im Lager oder reglos auf einem Feld, dessen Ortsbezeichnung niemand kennt.
Bin ich der einzige, der noch einen Vater, Brüder und Onkel hat?
Und wieviel Geld darf in der Hosentasche klimpern, wenn alle Schaufenster zugenagelt sind und die Leute nur noch ein paar magere Kaninchen besitzen, Rasse „Deutscher Riese“?
Diese Fragen durchfegten seinen Kopf mit der Wucht einer Granate, entwurzelten Gefühle und zerstörten die Gewissheit, ein Deutscher zu sein. Einige Jahre später würde Klaus englische Worte für diese existenzielle Verunsicherung finden:
“Yes, I felt a stranger in my former fatherland. There was an abyss which separated me of those who used to be my countrymen. Wherever I went in Germany, the […] nostalgic Leitmotiv followed me: ‘You can’t go home again!’” (2)
Das Fräulein in der Babyfabrik
Trotz dieser unheilvollen Ahnungen stieg Klaus die Stufen zum Eingang hinauf. Er war einfach zu neugierig, den Salon, die Küche, sein Kinderzimmer und den wunderschönen Balkon zu betreten, von dem aus man bis zu den Liebfrauentürmen schauen konnte, die den Bombenhagel einigermaßen überstanden hatten.
Klaus wusste, dass sein Vater schon bald die nächste Radioansprache in der BBC-Reihe „An das Deutsche Volk“ halten würde und dafür frische Informationen aus München gut gebrauchen könnte. Der Gedanke, seiner Familie zu helfen, gab ihm den Mut, nun in die schlafende Villa einzutreten.
Wo früher die elegante Eingangstür mit großen Glasfenstern war, waren zwei Holzplatten vor die Flügel genagelt. Mit einem schmerzvollen Geräusch ließ sich die Tür widerwillig aufschieben.
So intakt das Haus auf den ersten Blick aussah, innen war es ausgebrannt. Es roch hier genauso grässlich verrußt wie in der Innenstadt. Klaus tastete sich durch Schutt, Asche und Gerümpel voran und stellte fest, dass im Salon seiner Mutter und im Esszimmer neue Wände eingezogen worden waren. So waren aus den großen Räumen viele kleine Zimmerchen entstanden.
Doch wozu?
Lautlos wie ein Einbrecher schlich er die Treppe empor, wobei er herausgerissene Stufen übersteigen musste. Im ersten Obergeschoss lagen die Schlafzimmer seiner Eltern, es gab zwei Bäder, die Zimmer der Kleinsten und des Kinderfräuleins. Er überschaute flüchtig das Chaos.
Plötzlich hörte er ein Geräusch, das aus dem Dachgeschoss zu kommen schien. Genau gesagt – aus seinem Kinderzimmer.
Alle Sinne waren zu einer einzigen, äußersten Anspannung verschmolzen. Längst hatten sich seine Augen ans Halbdunkel im Treppenhaus gewöhnt. Er erklomm die letzten Stufen, dann stand er vor seinem Zimmer. Die Tür war nur angelehnt. Und drinnen ging jemand umher und summte dabei den Schlager „Veronika, der Lenz ist da – die Mädchen singen tralala – die ganze Welt ist wie verhext – Veronika, der Spargel wächst“. Mit der Gewissheit, in einer absurden Situation zu sein, klopfte Klaus an. Und als er statt eines „Herein“ hektisches Absatzklacken hörte, gab er der Tür einen Stoß.
Die Frau erfror in ihrer Haltung, als sie gerade ihre Röcke raffte, um durch ein Fenster auf den Balkon zu steigen. Sie trug eine Bettdecke unterm Arm und über der Schulter einen Beutel, in dem sich der Ausbeulung nach Kartoffeln oder Äpfel befinden mochten. Vom Alter her schätzte Klaus sie als blutjunges, unverheiratetes Fräulein ein. Sie trug kurze, dunkle Haare, insgesamt eine ungepflegte Frisur, die wohl einen Bubikopf darstellen sollte. Ihre Kleidung war zweckmäßig, ein langer grauer Rock, eine Bluse mit Flecken und eine Wollstrickjacke.
„Was tun Sie hier“, zischte sie, innerlich noch zwischen Flucht und Angriff schwankend. „Warum erschrecken‘s mich so?“
Klaus grinste: „Das gleiche wollte ich Sie gerade fragen – Sie scheinen ja in meinem alten Kinderzimmer zu wohnen!“
Nach einem Moment des Abwägens entschloss sich das Mädchen, dem Soldaten zu trauen. Sie kam ein paar Schritte näher und erzählte, dass sie sich notdürftig auf dem Balkon eingerichtet hatte. Als Schlechtwetter kam, habe sie sich durchs kaputte Fenster ins Haus gemogelt. Aber kochen täte sie natürlich nur auf dem Balkon. Und in der Dunkelheit. Ihr Ziel sei es, einfach abzuwarten, bis die Stadt eingenommen war und die Sieger alles neu geregelt hätten. Für diesen Plan hatte sie sich mit Lebensmitteln eingedeckt und kletterte nur gelegentlich hinunter, um frisches Wasser zu holen, voller Angst, dabei aufgegriffen zu werden.
Klaus hatte etwas Schokolade in der Tasche, die er ihr reichte. Sie bot an, einen Zichorienkaffee zu kochen. Dieser Kaffeeersatz war das ekelhafteste Gebräu, das Klaus je getrunken hatte, aber er fand es herrlich, auf dem Balkon seines Kinderzimmers zu sitzen. Und Deutsch zu sprechen.
Als sie begann, über das Schicksal der Poschi zu berichten, zückte er routinemäßig sein Notizbuch. Nur langsam, unwillig wurde ihm klar, dass die Villa bewusst als Niederlassung der Organisation „Lebensborn“ genutzt wurde, um die Familie Mann zu demütigen:
„Ja, wissen Sie denn wirklich nicht, was das heißt? (…) Stramme Burschen von der SS waren hier einquartiert, sehr feine Leute, wirklich: die reinsten Bullen. No, und als Bullen oder Hengste sind’s dann auch benützt worden, zwegen der Rasse, verstehen’s. So ein Lebensborn – mir ham ja viele g’habt, überall im Land – war für die rassischen Belange da, für die Züchtung des nordischen Geblütes, für den deutschen Nachwuchs“, (3) berichtete sie, mit braunem Mund die Schokolade kauend. Für Klaus drehte sich ihr Wortkarussell zu schnell. Schlagartig begriff er, wozu die kleinen Zimmer im Erdgeschoss gedient hatte. Mit letzter Kraft notierte er „SS baby factory“ und klappte sein Buch zu.
Noch einmal nippte er am bitteren, dünnen Kaffeeersatz. Ja, die Deutschen hatten gelitten. Aber er auch. Nicht im Notizbuch, im Herzen hatte er genau dokumentiert, was ihm die letzten 12 Jahre eingebracht hatten:
Verlust des Zuhauses, des Heimatlands und zunehmend der Heimatsprache. Er hatte sein Heiligstes für Deutschland in die Waagschale geworfen und bekam nichts zurück.
Wo in diesem kaputten Land konnte er sein Recht einfordern? Vielleicht gab es irgendwo einen Schalter, mit einer langen Schlange davor. Wenn er an die Reihe käme, würde er sich räuspern und sagen:
„Guten Tag! Ich gehöre einer der ersten intellektuellen Familien in Deutschland an. Können Sie bitte dafür sorgen, dass unser Zuhause wiederhergestellt wird? Außerdem wäre es nett, wenn meine Schwester Erika wieder stundenlang mit mir im Garten sitzen würde, so wie früher. Bis wann kriegen Sie das hin? – Danke!“
Nach einer Weile merkte das Fräulein, dass sein glasiger Blick in den Himmel schweifte, und wechselte das Thema. „Was haben’s denn da mitgebracht“, schmatzte sie, lächelte ihm aufmunternd ins Gesicht und zeigt auf Fritzi.
„Nichts, nichts“ murmelte Klaus, „ein Fundstück.“ Er hüllte die Holzfigur in sein Taschentuch und steckte sie, aufstehend, in seine Uniformtasche. Seine Stimme war schleppend geworden, als er ihr erklärte, dass jeden Moment noch ein Kamerad kommen würde, mit einem photographischen Apparat. Inzwischen war Klaus so erschöpft, dass er keine Informationen mehr verarbeiten konnte. Wortlose, sehr mächtige Gedanken kreisten nur noch um die Rückkehr in seine Pension. Eine unbeschreibliche Sehnsucht nach diesem trostlosen Gästezimmer überkam ihn, nach seinem Bett mit dem wackeligen Bücherstapel in Griffweite und nach „la petite chose“, der vertrauten Dosis, die seine Seele so fürsorglich zudeckte und der selbst die vorbildliche Erika nicht abgeneigt war.
Schon bald waren das obligatorische Foto und eine knappe Verabschiedung erfolgt. Wie im Nebel verließ Klaus sein Elternhaus. Draußen zogen bereits rosige Abendwölkchen über den Himmel. Die Amseln in den alten Bäumen waren, wie üblich zum Ausklang des Tages, lauter geworden und im Ton klagend. Auf die Straße biegend, rasselte er fast mit einem alten Herrn zusammen. Dieser schaute den US-Soldaten erschrocken an und duckte sich instinktiv, doch Klaus nickte ihm nur zerstreut zu. Wieder nur ein Fremder.
Sein letzter Blick streifte das Haus gegenüber, die Villa seines Jugendfreunds Ricki Hallgarten. Mit ihm hatten Klaus und Erika im „Laienbund Deutscher Mimiker“ zum ersten Mal Theater gespielt. Jahre später gewann Ricki zusammen mit Erika ein 10.000 Kilometer langes Autorennen quer durch Europa. Außerdem illustrierte er ihr Kinderbuch „Stoffel fliegt übers Meer“.
Dann erschoss sich der junge Mann.
Es geschah nur ein Jahr, bevor Klaus und Erika aus Deutschland flüchteten. Thomas Mann kommentierte die Verzweiflungstat kühl als „große Ungezogenheit“. Von diesen Erinnerungen durchdrungen vermied es Klaus, in die Richtung von Rickis altem Kinderzimmerfenster zu schauen, als könnte dort sein bleiches Gesicht auftauchen.
Als die Poschi schon außer Sichtweite lang, geschah es doch noch, das erhoffte Wunder:
Ein Maischneeflöckchen schwebte vom Himmel, so zart und unschuldig, dass es nicht aus dieser Zeit kommen konnte, und es landete genau auf seiner Hand. Klaus fasste den weißen Flaum sanft zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ es in sein Notizbuch gleiten.
Quellenangaben: (1): Klaus Mann, Korrespondenzbericht. Zitiert aus: Armin Strohmeyr, „Klaus Mann“, München, 2000. (2): Klaus Mann, Vortrag 1947. Zitiert aus: Wikipedia, „Klaus Mann“. (3): Klaus Mann, Der Wendepunkt, 1984.
Über diese Geschichte
Wie nah diese Kurzgeschichte an der Realität ist, lässt sich einfach beantworten:
Klaus Mann besuchte an diesem Tag tatsächlich die Villa in der Poschinger Straße, war schockiert über den verwüsteten Zustand und fragte sich, was es mit den kleinen Zimmern auf sich hatte.
Er traf die junge Frau, kam mit ihr ins Gespräch und notierte ihren O-Ton über den Lebensborn.
Thomas Manns Faszination für den Pappelschnee ist ebenfalls belegt.
Aus heutiger Sicht:
Was macht Klaus Manns Biographie so interessant?
Klaus kam 1906 zur Welt, nur ein Jahr nach der geliebten Schwester Erika. Schon als Teenager tobten sie sich kreativ aus: Sie spielten gemeinsam Theater, Cabaret und schrieben erste eigene Texte. Als „Enfants Terribles“ machten sie München und Berlin unsicher. Klaus stand offen dazu, dass er homosexuell war; eine Neigung, die sein Vater teilte, aber der große Zauberer der Worte bekannte sich aus Rücksicht vor Familie und Werk nie dazu.
Beide Eltern warfen große Schatten der Unerreichbarkeit auf ihre Kinder:
Vater Thomas Mann war ein international angesehener Schriftsteller, der 1929 den Nobelpreis für die „Buddenbrooks“ erhielt. Mutter Katia war klug und auffallend hübsch: 1901 schloss sie als erste Frau das Abitur in München ab und studierte anschließend Naturwissenschaften und Philosophie.
Eine Familie mit Geschichte(n)
Neben seiner gefühlten „Zwillingsschwester“ Erika hatte Klaus noch vier weitere Geschwister: Golo, später ein anerkannter Historiker; Monika, die ihren Mann 1940 bei der Flucht von England nach Kanada verlor, als ihr Schiff angegriffen wurde; Elisabeth, eine Seerechtsexpertin und Ökologin, der wir es heute verdanken, dass unsere Meere als schützenswertes Gemeingut betrachtet werden (1); sowie Michael, ein talentierter Musiker und Germanist zugleich, der sich vermutlich das Leben nahm, nachdem er in den Tagebüchern seines Vaters gelesen hatte, dass er nicht gewollt war. (2)
Die sorglose, experimentierfreudige Zeit war für Klaus und Erika schlagartig vorbei, als sich die Diktatur in Deutschland etablierte.
Von Anfang an positionierte sich Klaus als erbitterter Gegner der Nazis. Schon 1933 flüchtete er ins europäische Exil, später auch nach New York. Als seine Bücher verboten wurden, notierte er im Tagebuch:
„Gestern also sind auch meine Bücher in allen deutschen Städten öffentlich verbrannt worden (…). Die Barbarei bis ins Infantile. Ehrt mich aber.“ (3)
Klaus Mann engagierte sich im Amsterdamer Exilverlag Querido und brachte die Literaturzeitschrift „Die Sammlung“ heraus, um den vertriebenen Exilliteraten ein neues Forum zu bieten. Es begannen ruhelose Reisejahre, in denen er unter anderem sein bekanntestes Werk schrieb: „Mephisto – Roman einer Karriere“ von 1936.
Dieses Buch ist aus gleich zwei Gründen sehr persönlich: Erstens zeichnet er darin die steile Karriere des Schauspielers Gustaf Gründgens im Dritten Reich nach, der früher ein enger Freund und sogar drei Jahre mit Erika verheiratet war. Darin wird Gründgens als „Affe der Macht“ lächerlich gemacht, ohne jede Rücksicht auf dessen Privatsphäre.
Zweitens bezieht sich Klaus in diesem Buch auf das satirische Meisterwerk „Der Untertan“ (1918) von seinem Onkel Heinrich Mann. In diesem Buch beschreibt Thomas‘ großer Bruder eine ähnliche Mitläuferstory, aber schon viel früher, im Kaiserreich.
Ab 1941 schloss sich Klaus Mann der US-Armee an und leistete eine bedeutende Aufklärungs- und Vermittlungsarbeit zwischen Deutschland und den Alliierten. Der erfahrene Journalist verhörte nun deutsche Kriegsgefangene und gewann damit tiefe Einblicke ins nationalsozialistische Selbstverständnis.
Nach dem Krieg besuchte Klaus Mann nicht nur München, sondern interviewte viele Nazigrößen und Profiteure, darunter Herman Göring und den Komponisten Richard Strauss.
Seine Schwester Erika schrieb ebenfalls über die Nürnberger Prozesse. Zuvor gelang es ihr, als eine der ersten Journalistinnen Zugang zum geheimen „Camp Ashcan“ in Luxemburg zu erhalten: In diesem ehemaligen Luxushotel waren in den ersten Wochen nach Kriegsende hochrangige NS-Entscheider interniert, bevor sie nach Nürnberg überstellt wurden.
„Ich wünsche nicht, dieses Jahr zu überleben“
Für Klaus brachte die Nachkriegszeit kein Glück. Er war entsetzt, wie viele eingefleischte Nazis und Weggucker ungestraft davonkamen und ihre Karrieren nahtlos fortzusetzen konnten.
Außerdem litt er unter der Entfremdung von seiner Schwester Erika: Denn sie bewegte sich immer mehr im Windschatten ihres Vaters, begleitete ihn auf Vortragsreisen und widmete sich ganz der Überarbeitung seines imposanten Werks.
Klaus war also doppelt abgemeldet – ein bitterer Lohn für einen, der sein junges Leben mit hundertprozentiger Hingabe für Deutschland eingesetzt hatte.
Sein persönliches Negativ-Highlight war, dass sein Verleger 1949 die geplante Neuauflage des „Mephisto“ verweigerte. Einfach, weil Gustaf Gründgens wieder ein Star war.
Klaus hingegen hatte keine schriftstellerischen Erfolge mehr. In welcher Sprache sollte er auch schreiben?
Blick in Europas Kristallkugel
Aus heutiger Sicht ist es besonders spannend, was Klaus über die politische Zukunft dachte:
Der überzeugte Europäerwar sehr besorgt über die Spaltung der Siegermächte. Das Schwarz und Weiß von Ost und West gefiel ihm nicht. Bemerkenswert ist, dass Klaus Mann schon 1946 in der Zeitschrift „European World“ die Idee zur Gründung einer Europäischen Union kritisch hinterfragte. Er fürchtete, dass Europa unter dem Druck der amerikanischen und sowjetischen Spannungen in einen neuen globalen Konflikt geraten könnte. Außerdem betrachtete er die Begeisterung für den Kapitalismus und die pauschale Ablehnung sozialistischer Ideale mit Skepsis. (4)
Sein literarisches Schaffen, seine Familie, seine Heimat – einfach alles entwickelte sich komplett anders als gedacht.
Nach Jahren des inneren Kampfes, wiederholten Drogenentzügen und gescheiterten Neuanfängen, nahm sich Klaus Mann 1949 in Cannes das Leben. Sein Bruder Michael spielte am Grab Bratsche; Erika und seine Eltern waren bei der Beerdigung nicht anwesend.
Klaus Mann – unvergessen
Doch es ist nicht nur das Leben, das eine Biographie ausmacht, sondern auch das Nachleben:
Erika verarbeitete ihre Trauer dadurch, dass sie seine wichtigsten Werke neu editierte, seinen letzten bedeutenden Essay veröffentlichte, in dem er die Entzweiung zwischen Ost- und West-Europa beklagt, und sie brachte einen Gedächtnisband zum Werk ihres Bruders heraus, für das auch Thomas Mann ein Vorwort schrieb.
Damit legte Erika den Grundstein für die Wiederentdeckung Klaus Manns als bedeutenden Autor, Pazifisten – und feinfühligen Menschen.
Quellenangaben:
(1): Vgl. Wikipedia „Elisabeth Mann Borgese“. (2): Vgl. Wikipedia „Michael Mann (Literaturwissenschaftler)“. (3): Klaus Mann, Tagebucheintrag vom 11. Mai 1933. Zitiert in: Nicole Schaenzler, Klaus Mann. Eine Biographie. (4): Nach: Armin Strohmeyr, „Klaus Mann“, München, 2000.
Eine letzte Frage:
Steht die Poschi heute noch?
Kehren wir zur Location unserer Geschichte zurück: Die Münchener Villa der Familie Mann zog schon damals alle Blicke auf sich. Im Jahr 1915 erschien sogar eine Homestory in der Avantgardezeitschrift „Die Dame“:
„Am bewaldeten Uferhang der Isar hat er sich angesiedelt, wo man die Frauentürme sieht und am Horizont die Berge. Halb versteckt unter Bäumen liegt das Haus. Ein von Säulen getragenes Portal führt hinein … Keine Unruhe dringt in diese vornehme Abgeschlossenheit. Es gibt keinen Salon. Die Arbeitsstube des Herrn und das Zimmer der Frau sind die (…) ‚zwei Herzkammern des ganzen Heims‘ (…). Den großen runden Tisch (…) bedecken die neuesten Broschüren und Zeitschriften; die bequemen Lehnsessel neben dem Kamin laden zum Lesen ein.“ (1)
Ein Traumhaus, das die Literatenfamilie bald wieder verlassen musste. Während des Exils wurde die Villa als Niederlassung des Lebensborn e. V. genutzt und in den nachfolgenden Kriegsjahren stark beschädigt.
Klaus Mann beschrieb sein Wiedersehen mit der Poschi in einem Brief an den Vater so:
„Da war schon das Hallgartensche Haus – Rickis Haus: es steht noch! Und das unsere? Ja, auch unseres steht. Zunächst hielt ich es für unbeschädigt. (…) Der reine Bluff! – wie ich bei näherem Hinschauen alsbald konstatieren mußte. Das Gerüst hat standgehalten, aber nur als Attrappe und hohle Form. Drinnen ist alles wüst und ausgebrannt“. (2)
Aber dort leben konnte man trotzdem noch, mehr schlecht als recht:
Bis 1952 wurden hier ausgebombte deutsche Familien sowie Geflüchtete aus der Ukraine und Russland einquartiert.
Thomas Mann erhielt die Eigentumsrechte zwar später zurück, aber das Gebäude war eine einzige Ruine, sodass er dem Abriss zustimmte. In den 50er-Jahren entstand auf dem Grundstück zunächst ein Bungalow, der auch wieder abgerissen wurde. Ein deutscher Finanzmanager ließ schließlich die Villa nach historischen Plänen neu errichten, die seither privat genutzt wird. (3)
Abschließend sei noch erwähnt, dass in der Nachbarschaft – im Hause der Hallgartens nämlich – von 1945 bis 2008 die private Exil-Uni „Ukrainische Freie Universität (UFU)“ untergebracht war. Zu ihr gehörte die größte ukrainische Spezialbibliothek in Westeuropa.
Quellenangaben:
(1) Alex Braun, Bei Thomas Mann in München. In: Die Dame. Nr. 8, 1915. (2): Klaus Mann, Der Wendepunkt, 1984. (3): Vgl. Wikipedia „Thomas-Mann-Villa (München)“.